Nicht weniger als die komplette und globale Abschaffung des Urheberrechts schlagen der Politikwissenschaftler Joost Smiers und die Medienwissenschaftlerin Marieke van Schijndel in ihrer „Streitschrift“ No Copyright vor. Eine kühne Utopie. Gleichwohl ist das nun auf deutsch erhältliche Buch der beiden Holländer sehr lesenswert. Weil es die überhitzte Debatte um Piraterie und Schutzrechte neu erdet: mit einem klugen Zwischenruf des gesunden Menschenverstandes.
Zankapfel Urheberrecht. Da erheben sich hunderte Künstler und Kulturschaffende mit öffentlichen Erklärungen für das Urheberrecht, das zuallererst gegen die grassierende Kostenlos-Mentalität zu schützen sei. Da ziehen Verwertungsgesellschaften und Verlage zu Felde, um mit Gebührenreformen und zusätzlichen Schutzrechten mehr aus dem Urheberrecht herauszuholen, vorgeblich zuallererst für die Urheber. Da prangern politische Parteien die Kriminalisierung „moderner“ Mediennutzer an und setzen als probates Gegenmittel zuallererst auf eine „Entschärfung“ des Urheberrechts. Und jetzt kommen zwei, die wollen dieses Urheberrecht zuallererst einmal komplett abschaffen. Was für eine Idee ist das denn?
Nun, jedenfalls nicht die von Medienjuristen, aber auch nicht die von Internet-Nerds. Joost Smiers ist von Hause aus Politikwissenschaftler, Marieke van Schijndel studierte Betriebswirtschaft, Theater-, Film- und Fernseh- sowie Medienwissenschaft. Beides Sozialwissenschaftler, die aber nicht in Gesetzestexten und Rechtsformulierungen denken, sondern in gesellschaftlichen Dimensionen und politischen Entscheidungs-Spielräumen. Deshalb trägt ihr Buch den Untertitel „Vom Machtkampf der Kulturkonzerne um das Urheberrecht”. Ausgangspunkte von „No Copyright” sind auch nicht zahlenreiche Studien oder tief schürfende Analysen. Vielmehr liefern sie als aufmerksame Beobachter einen essayistischen Befund. Smiers/van Schijndel zufolge hätten „große Kultur- und Medienunternehmen”, die „hyperkontrolliert und überfinanziert” sind, im Laufe der letzten Jahrzehnte eine „marktbeherrschende Stellung” erlangt. „Bestseller, Blockbuster und Stars wirken verheerend”, so die Autoren, weil sie zu viel Investitionen, aber auch zu viel Aufmerksamkeit auf sich zögen. Mittels aggressiver Aufkauf-Strategien und überbordender Marketing-Aufwände würden solche Konzerne Kunst, Kultur und Medien mittlerweile so stark dominieren, dass dies die kulturelle Vielfalt und damit die gesellschaftliche Demokratie untergrabe. Mehr noch: In Berufung auf die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte” konstatieren und beschwören Smiers/van Schijndel einen globalen Machtkampf. Der zu 68er-Zeiten populäre Begriff des „Kulturimperialismus“ lauert zwischen ihren Zeilen, allzeit bereit, noch einmal in den Kampf zu ziehen, auch wenn ihn heute nicht Klassen sondern „Natives“ führen.
Smiers/van Schijndel kommen zu der Überzeugung, dass das Urheberrecht in seiner heutigen Form ein „Hemmschuh” für die Gesellschaft sei
So wie damals die autoritäre Erziehung Angriffspunkt für den Kampf gegen ein insgesamt menschenfeindliches System war, ist es bei Smies/van Schijndel heute die autoritäre Kulturwirtschaft. Den Autoritäten der übermächtig gewordenen Lizenz- und Rechteverwerter seien Urheber und Kulturschaffende mehr und mehr ausgeliefert. Daher müssten sie sich nicht nur von ihnen befreien und unabhängig agieren, sondern das Übel an der Wurzel packen: an der Idee vom „geistigen Eigentum“. Kultureller Austausch, so die Autoren, beinhalte schon immer das freie, unbeschränkte Nachahmen, Kopieren, Benutzen und Verändern bestehender Werke. Doch genau diese „natürlichen“ Austausch- und Vererbungsprozesse, diese Wechselwirkungen über Kulturkreise und Generationen hinweg, würden mittels der Urheberrechts- und Copyright-Gesetze mehr und mehr unterbunden, – und dies mehr und mehr im Interesse der erwähnten Verwerter-Konzerne als im Interesse der Urheber. Daher kommen Smiers/van Schijndel zu der Überzeugung, dass das Urheberrecht in seiner heutigen Form ein „Hemmschuh” für die Gesellschaft sei, da es mittlerweile mehr verhindere als ermögliche. Daher gehöre es abgeschafft, mit Stumpf und Stiel.
Viele ihrer „Argumente gegen das Urheberrecht“ lesen sich wohl desto plausibler, je größer das eigene Unbehagen gegenüber erwähnten Medien- und Kulturkonzernen ist. Zudem braucht man sich nur die jüngsten Auseinandersetzungen um Kopierschutz und Piraterie ins Gedächtnis rufen, die skurril anmutenden juristischen Schlachten um Sekunden- und Takt-Längen von Samples, die breite Kritik am aggressiven Vorgehen von Verwertungsgesellschaften, wie GEMA und VG Wort, oder auch das bis in die Privatwirtschaft reichende Aufbegehren gegenüber einem Leistungsschutzrecht für Verlage. Auf diese und weitere aktuelle Diskurse der gesamten Urheberrechts-Debatte nehmen Smiers/van Schijndel in ihrer Streitschrift durchaus Bezug. Hierbei, und das mag für manche überraschend kommen, distanzieren sie sich auch von der Piratenpartei. Denn die Piraten würden das Urheberrecht nur hier und da stutzen wollen, aber nicht radikal in Frage stellen: „Ob es demokratisch ist, dass einzelne Grosskonzerne, auch im Netz, die Spielregeln diktieren – solche Fragen scheint es für die Piratenpartei nicht zu geben“, befinden sie. Was wohl so viel heissen soll wie, wer sich wirklich als Pirat versteht, dem muss an mehr gelegen sein, als in den Sandkasten der Medienpolitik zu steigen und mit ein paar Reförmchen in einer abgelegenen Gesetzesecke herumzubuddeln. Es geht, um im Bild zu bleiben, um den ganzen Sandkasten, und der heisst für Smiers/van Schijndel „freies und frei teilbares Wissen”.
Die beiden Holländer beschreiben eine zukünftige Gesellschaft, in der sich die Urheber nicht sorgen, sondern leben
Der Generalkritik am Urheberrecht lassen die Autoren ihren radikalen Gegenentwurf folgen – und taten dies im übrigen schon 2009, also weit vor den jetzigen Debatten in Deutschland und Europa. Umso besser, dass ihre zunächst in englisch erschienene Streitschrift nun ins deutsche übersetzt wurde, noch dazu mit so viel Sachkenntnis: Übersetzer Ilja Braun arbeitete beim Internetrechts-Portal iRights.info mit und ist derzeit als Referent der Bundestagsfraktion der Linken für die Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“ tätig. Dieser Bezug könnte gut passen, denn die kompromisslose Idee von Smiers/van Schijndel, das Urheberrecht komplett abzuschaffen, und das am besten weltweit, hat etwas revolutionäres, womöglich etwas sozialistisches: ohne Urheberrecht gäbe es keinen Kopier-, Nutzungs- und Gebrauchsschutz mehr. Alle Kunst-, Kultur- und Medien-Schöpfungen dürften ungefragt beliebig genutzt werden: abgespielt, gezeigt, aufgeführt, kopiert, weiterverbreitet, überarbeitet, in neuen Zusammenhang gebracht. Remixe, Mashups, Verfremdungen wären erlaubt, jeder Text, Song, Film, jedes Bild, Foto, Theaterstück wäre rechtlich frei verfügbar. Wie Sonne und Luft. Zurück zur Natur, zurück auf Null, die Gedanken sind frei, auch die aufgeschriebenen, die aufgenommenen, die hart erarbeiteten, die zu „Werken“ geformten.
Ein so geöffneter Kunst-, Kultur- und Medienbetrieb benötigte zunächst einmal keine Rechteverwaltungs- und -verwertungsgesellschaften, schon gar keine gigantischen, industrialisierten, denn zu verwertende Urheberrechte gäbe es ja nicht mehr, Nutzungsrechte wären obsolet. Doch damit nicht genug: „Die Abschaffung des Urheberrechts“, schreiben sie, „ … muss einhergehen mit einer Stärkung des Wettbewerbsrechts und einer Regulierung des Marktes nach Maßgabe eines Leitbildes möglichst großer Diversität von Eigentum und Inhalten.“ In dieser mehrfach betonten Reformierung des Wettbewerbsrechts sehen die Autoren einen wichtigen Erfolgsfaktor für das Erreichen ihres eigentlichen Ziels: „Kultureller Pluralismus“. Statt weniger marktbeherrschender Kulturkonzerne soll es zahllose kleinteilige Schöpferzellen geben, denkbar vielfältig, sagenhaft bunt, sich gegenseitig zitierend, kopierend, inspirierend, befruchtend, für eine wirklich nachhaltige Kultur. Sozusagen ein humanistisch-dynamischer „Content“-Anbau in blühenden Kultur- und Medienlandschaften. So impressionistisch beschreiben die beiden Holländer eine zukünftige Gesellschaft, in der sich die Urheber nicht sorgen, sondern leben – und sogar leben können, von ihrer Kunst, von ihren Schöpfungen, von ihren Werken.
Wie das Ganze konkret umzusetzen wäre, lassen die Autoren zwar durchblicken, bleiben aber oberflächlich
Sie nennen ein paar hinlänglich bekannte Beispiele von Urhebern, die sich im Hier und Jetzt auf eigenen Beine stellten, ihre Werke frei abgaben, und dennoch genug an Büchern, Alben, Eintrittskarten oder Drumherum verkaufen, um damit wirtschaftlich zurecht zu kommen. Etwa der Schriftsteller Cory Doctorow, die russische Sängerin Zemfira oder die Indie-Band Radiohead. Doch darüber hinaus stellen die Autoren keine belastbaren Überlegungen an, wie realistisch es ist, dass alle Künste und Künstler so wie die Vorzeigebeispiele vorgehen könnten. Fielen zum Beispiel mangels Urheberrecht die GEMA-Gebühren für Veranstalter oder Clubs ganz weg, setzte dies theoretisch Budgets frei. Doch werden die Menschen diese Gelder tatsächlich weiterhin für Kultur und Medien reservieren und ausgeben – wenn das Kopieren und selbst verbreiten nicht nur simpel und kostenlos sondern auch legal ist?
Smiers/van Schijndel setzen hierbei auf Moral und Ethik, sogar auf systematische Markenbildung. In einer urheberrechtslosen Gesellschaft müssten die Urheber in ihre Unverwechselbarkeit und ihr Image investieren sowie eine direkte, wirksame und nachhaltige Beziehung zu ihrem Publikum aufbauen. So würden sie soziale Verbindungen und Vertrauen schaffen, Einbeziehung ermöglichen. Und dann wären die Leute bereit zu bezahlen, sogar auf Dauer und mitunter beträchtlich. Auch hierfür nennen die Autoren funktionierende Beispiele. Doch wie viele Bindungen es an der Zahl sein müssen, und ob der organisatorische, kommunikative Aufwand dafür nicht die schöpferischen Prozesse hemmt, das bleibt fraglich.
Erst recht, wenn man nicht nur an den einzelnen Schriftsteller, das kleine Fotografen-Kollektiv oder die fünfköpfige Rockband denkt – sondern an ein großes Symphonieorchester, eine aufwändige Theater-Inszenierung oder einen abendfüllenden Spielfilm. Die dafür notwendigen vorlaufenden und dauerhaften Investitionen sind ja riesig und erfordern weit mehr, als einige Tausend „Fans“ und „Gefällt mir‘s“ in sozialen Netzwerken, deren Sympathien sich bei einigen in reale Zahlungsbereitschaft verwandeln. Immerhin, Smiers/van Schijndel geben zu erkennen, dass sie den (europäischen) Weg der Kulturfinanzierung und -förderung durch Haushaltsabgaben, Rundfunkgebühren, Kultursteuern und Stiftungen nicht nur für gangbar sondern für notwendig halten – in einer Zukunft ohne das Urheberrecht sogar noch mehr. Zudem räumen sie Spielfilmen und ähnlich aufwändigen Werken ein, dass sie über „begrenzte Zeit einen besonderen Schutz“, erhalten mögen, um ihnen „zu Amortisation zu verhelfen.“ Eine Art Urheberrecht „light“, also? Ab welcher Größenordnung von Investitionskosten greift dann so ein Schutz? Wer entscheidet darüber? Wichtige Fragen, deren Beantwortung die Autoren im Nebel ihrer Vision lassen.
Ähnlich wie Doc Brown in „Zurück in die Zukunft“ reisen Smiers/van Schijndel mal eben durch die Zeit – nur durchbrechen sie dabei eher das „Rechts-Raum-Kontinuum”
Die Kraft dieser Vision, sich eine Gesellschaft ohne Urheberrecht überhaupt erst einmal vorzustellen, steht für die beiden Holländer im Mittelpunkt. „Wir sind weder Kulturpessimisten noch -optimisten” schreiben sie. Dann vielleicht Kultur-Utopisten, Zeit-Reisende, fast wie in den „Zurück in die Zukunft“-Filmen. Mit seinem schlohweissen Flatterhaar erinnert Joost Smiers ja tatsächlich ein wenig an den Zeitmaschinen-Erfinder „Doc Brown“. Und so wie letzterer in seinem umgebauten Sportwagen, beamen sich Smiers/van Schijndel zumindest gedanklich mal eben durch das „Rechts-Raum-Kontinuum” in eine Gesellschaft ohne geistiges Eigentum. Von dort bringen sie uns statt des „Sport-Almanachs“ (der im Film den Bösewicht reich machte) ihre „Streitschrift“ mit. Die macht Urheber zwar nicht automatisch reich, soll sie aber zumindest zuversichtlich stimmen.
Soweit so gut. Und doch haben die Theorien des cleveren Copyright-Doc ihre Schwächen. Diese Schwächen begründen sich im Wesen der Digitalisierung, die ja Auslöser der ganzen tektonischen Verwerfungen von Kulturlandschaften ist. Im Land Digitalien heisst kopieren nicht einfach nur nachahmen oder plagieren sondern „klonen“: sowohl verlustfreies vervielfältigen als auch sekundenschnelles, grenzenloses distribuieren. Mit dem von den Autoren gerne angeführten „Raubdruck“-Buch hat der Digital-Klon kaum noch was zu tun. Der Klon braucht weder Mühe noch Platz noch besondere Behandlung. „Wenn heute beispielsweise ein Verlag von einem Autoren ein Manuskript erhält, es zunächst ablehnt, aber später, im Moment erster Erfolge des Werkes, für die dieser Verlag nichts tat, dann aber doch druckt und verkauft, was er ja darf, weil es kein Urheberrecht gibt – was dann?“ Genau so fragte ein Teilnehmer einer Buchvorstellung von Joost Smiers in Berlin. „Das wäre unehrenhaft, der Verlag würde öffentlich angeprangert und wäre diskreditiert“, meinte Smiers lediglich dazu. Denkt man allerdings daran, dass sich beispielsweise die Bild-Zeitung des Axel Springer Verlag seit Jahrzehnten kontinuierlich Jahr für Jahr öffentliche Rügen des Deutschen Presserats einhandelt, seine dazu führende Praxis aber nicht ändert, dann scheint der Miskredit ein eher stumpfes Schwert zu sein: ganz offenkundig lebt es sich auch mit (branchen-)öffentlichen Diskreditierungen ganz gut weiter.
Smiers/van Schijndel vertrauen bei ihrem Gedankenexperiment – Verzicht auf „geistiges Eigentum“ – in das Gute im Menschen, wider den Verlockungen des Unguten. Das macht sie mitunter zu Fantasten. Gleichwohl ist der Ansatz von „No Copyright“ hilfreich, weil er uns in einer übersteigerten Diskussion um das offenbar überzüchtete Urheberrecht mit Herangehensweisen des gesundem Menschenverstands einen Neustart unseres Denkens ermöglicht. Doch ob solche Utopien in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung den Hauch einer Chance haben, bleibt fraglich. Das wissen die Autoren auch und wollen mit ihrem Buch zunächst zu einem weltweiten Dialog einladen. Sollten ihre Ansätze tatsächlich Eingang finden in (weltweite) Beratungen, Konferenzen oder gar „Protokolle“ zu Urhebern, Wissensaustausch und Kutur-Gütern, wäre das ein Erfolg. Für Smiers/van Schijndel hat das „geistige Klima“ in den globalen Kulturzonen eine ähnliche politische Dimension wie das meteorologische Klima, um welches ja mittlerweile die gesamte Erdbevölkerung ringt. Womöglich täten die Kombattanten der Urheberrechts-Gefechte gut daran, die vermeintlich spinnerten Ansätze von „No Copyright“ ernst zu nehmen, und sich davon neu „erden“ zu lassen.
Angaben zu Buch und Verlag:
Schijndel, Marieke van | Smiers, Joost
NO COPYRIGHT
Vom Machtkampf der Kulturkonzerne um das Urheberrecht. Eine Streitschrift
Aus dem Niederländischen von Ilja Braun. Mit einem Nachwort von Jürgen Marten
168 Seiten, 2012, Fadenheftung, Broschur
ISBN 978-3-89581-275-0
http://www.alexander-verlag.com/programm/titel/294-NO_COPYRIGHT.html