Eine fulminante Theater-Inszenierung in Berlin zeichnet das Schaffen des großen Rockpoeten und „Ton, Steine, Scherben“-Sängers Rio Reiser nach
„Wir kriegen 300 Mark für unseren Auftritt, wir müssen uns ein Auto besorgen, bringen die Anlage mit, schlafen sogar in Zelten – und jetzt sollen wir für diese Scheiß Schmalzstullen bezahlen?!“ Als die Band Ton, Steine, Scherben Anfang der 70er Jahre mal wieder bei einer irgendwie linken Veranstaltung spielt, platzt auch Rio Reiser der Kragen. Bei allen Sympathien für Solidarität und die Ziele „der Bewegung“ können sie als Musiker nicht immer nur drauf zahlen, dann müssten sie irgendwann ganz aufhören. Die tumultige Szene endet im Zerwürfnis mit den linken Veranstaltern – und ist einer der Schlüsselmomente für die Erzählung des Theaterstücks „Rio Reiser – Mein Name ist Mensch“. Es feierte gestern seine vom Publikum frenetisch umjubelte Berlin-Premiere.
Das als „Schauspielmusical“ beworbene Rock-Theater-Stück stammt von Frank Leo Schröder und Gert C. Möbius. Letzterer ist einer der beiden Brüder von Rio Reiser (Ralph Möbius), der sich auch um das kulturelle Erbe des 1996 verstorbenen, ikonischen Sängers, Musikers und Songschreibers kümmert. Die biografisch angelegte Aufführung lief ab 2017/2018 und sehr erfolgreich im Hans-Otto-Theater Potsdam (Autor: Heiner Kondschak, Regie: Frank Leo Schröder), jetzt bringt die Komödie am Kurfürstendamm eine von Schröder/Möbius überarbeitete Fassung ins vorübergehend bezogene Schiller-Theater. Und rückt sie damit sozusagen noch näher ans Geschehen der Jahre, in denen es mit den „Scherben“ begann: Mit den 68er Studenten-Protesten auf der Straße – und dem Mord an Benno Ohnesorg nahe der wenige hundert Meter vom Schiller Theater entfernten Deutschen Oper – und mit Wohn-Übungsraum-Gemeinschaften, Politaktivismus und Hausbesetzungen im Kreuzberger Millieu.
Die Power, die diese urgewaltigen Tracks brauchen
Diese Geburtsphase der Band, die sich Ende der 60er gründete, um Wahrheiten ungeschminkt zu singen, Wut und Gegenwehr in eingängigen Songs zu kanalisieren und damit die einfachen Menschen aufzurütteln, wird flott und mit Wucht erzählt – und vor allem hart gerockt: Die Schauspielerinnen und Schauspieler spielen selbst Gitarren, Bass, Schlagzeug, Keyboards, Saxofon, sie singen und sie performen die Songs. Und das keineswegs schlecht, im Gegenteil. Zeitlosen Anarcho-Krachern, wie dem hymnischen „Keine Macht, für Niemand!“ verleiht das durchweg junge Ensemble mit seinem von Beginn an überzeugenden Spiel die Power, die diese urgewaltigen Tracks brauchen.
Auch die Atmosphäre, der Zeitgeist kommen gut rüber, bekifftes WG-Feeling, Angst vor Polizei und Räumungen – und ständig schleicht sich eine subversive Verfassungsschutz-Wanze durch die Szenerien. Das alles ist gut getroffen, nur ganz selten etwas abziehbildhaft, gleichwohl großartig vom elfköpfigen Ensemble umgesetzt, das in kurzer Zeit in enorm viele Rollen schlüpft.
Die Übergänge zwischen Sprechszenen und Songs sind fließend inszeniert, mal mit Übungsraum-Anmutung, mal mit Live-Flair, oft aus der Situation der Handlung heraus entstehend oder in eine neue übergehend. Da aber (ein Glück) keine Dialoge gesungen werden – stattdessen tragen die für Rocksongs gedachten Texte die Erzählung weiter – umschifft die feinfühlige Inszenierung die (von mir) gefürchteten Peinlichkeits-Momente verkitschter Musicalisierung. Vielmehr gibt sie dem geradlinigen Rock adäquaten Raum, sogar für diverse Gitarrensoli.
Dürfte auch für ein junges Publikum funktionieren
Gleichwohl ist es natürlich kein Scherben-Cover-Band-Konzert sondern ein Theaterstück, wenn auch mit viel livehaftigem Rock. Mich erinnert die häufig organische Verschmelzung von in sich geschlossenen Rocksongs und tragenden Sprechszenen in seiner Machart an Grips-Theater-Stücke für Jugendliche.
Tatsächlich dürfte „Rio Reiser – Mein Name ist Mensch“ auch für ein junges Publikum funktionieren (also alle unter 40 ;-) Denn das mit rund zweieinhalb Stunden Spielzeit recht üppige Stück (unterbrochen von einer Pause) verhandelt anhand Rios Lebenslauf viele Fragestellungen, die sich von den Zeiten abheben, in denen sie bei ihm entstanden sind (die späten 60er bis frühen 90er Jahre). Auch wenn viele vermutlich mit manch zitierten Namen nicht sofort was anzufangen wissen, wie „Georg von Rauch“ oder „Ronny“ (Ronald Reagan), sollten sie dem Stück doch viel entnehmen können.
Etwa, dass sich die Wut über lahme, ja, lähmende gesellschaftliche Zustände in Mut zur Veränderung, in Musik mit Haltung verwandeln lässt, die aufrichtig und kämpferisch ist, die rockt und mitreisst: „Wir müssen hier raus!“ Aber auch, dass deren Macher gerade deswegen doppelt unter Druck geraten können: Weil die einen sie missbilligen und boykottieren (etwa nicht im Radio spielen), während die anderen sie vereinnahmen, oft zu sehr vereinnahmen – und ihnen dann übel nehmen, wenn sie entweder anständig bezahlt werden wollen oder auch mal „unpolitische“ Liebesballaden komponieren, womöglich sogar beides.
Diese Konflikte, dass eine Band mit linker Haltung von der Szene immer wieder aufgrund schlimmen Kommerzverdachts gedisst wird, nehmen im Stück großen Raum ein. Tatsächlich hatten die Scherben seit ihrer Gründung genau deswegen permanent mit finanziellen Problemen zu kämpfen und haben sich infolgedessen Mitte der 80er aufgelöst.
Moralische Anerkennung versus Überlebenskampf, Überzeugungen versus Vereinnahmung, ideologische Zankereien versus einer breiten „Aktionseinheit“ – das sind aktuelle Themen. Und weil sich einerseits kraftvolle Empörungs-Songs wie „Mein Name ist Mensch“ durchaus auch für Fridays For Future- oder Extinction Rebellion-Aktivisten eignen, lassen sich andererseits vielleicht Lehren aus allzu kleinteiligen Zerwürfnissen ziehen, die schon so manche Bewegung spalteten und bremsten.
„Wenn er leidet, schreibt er die besten Songs“
Noch mehr als die Band leidet im Stück Rio Reiser unter diesem Druck von Außen, von Einflüssen und Einflüsterern, die ihn in seinem musikalischen Schaffen als Songschreiber ebenso einengen wie in seinem Leben. Einem Leben als ein Künstler, der sich nie wiederholen möchte, immer nach Neuem sucht – auch mal in Gefilden des Schlagers, den er als „Volksmusik“ begreift.
Trotz zeitweiligem Erfolg mit Hits wie „König von Deutschland“ bringt ihm das Dasein als Solokünstler bei einem Major-Label nicht die ersehnte künstlerische Unabhängigkeit. (Ganz klasse hier der als ironischer Tango inszenierte „Manager“-Song über die „Segnungen“ des Fremdbestimmseins). Sein bewusster und öffentlich gemachter Eintritt in die PDS handelt ihm Kritik von Plattenfirma, Management und sogar Bandkollegen ein, er verliert an Zuspruch – und an Selbstglauben.
Auch die noch mehr ersehnte innere Balance und Ruhe, die für ihn einer ewigen Suche nach Liebe gleichkommt, will sich nie richtig einstellen. Immer wieder bricht aus ihm die Verzweiflung an den gesellschaftlichen Verhältnissen und seinem persönlichen Dasein hervor, was ein Scherben-Musiker lakonisch quittiert: „Wenn er leidet, schreibt er die besten Songs“. Zugleich schwappt in ihm auch mal der divenhafte Exzentriker hoch, der mitunter Beziehungen und sich selbst kaputt macht.
Das alles spielt der Hauptdarsteller des Premierenabends, Frédéric Brossier, mit hohem Einsatz, durchdringender und sehr berührender Präsenz. Er lässt seinen Rio vor allem mit Körperspiel himmelhoch jauchzen und tieftraurig betrüben, zärtlich streicheln (den Babybauch einer Ex), ausgelassen tanzspringen, aufgebracht zucken oder bemitleidenswert in sich zusammensacken. Und er singt denkbar gefühlvoll.
Nicht zuletzt erzählt das Stück, was für ein großartiger Poet und empathischer Songschreiber Rio Reiser war. Und dass er, wie viele, viele andere große Künstler*innen, die Kraft dafür aus vielen inneren und äußeren Auseinandersetzungen schöpfte, zu denen wohl auch seine (viel zu) spät ausgelebte Homosexualität gehörte.
Die Songauswahl dient der Erzählung, nicht umgekehrt
Für viele Kenner oder Fans ist es vielleicht nicht nötig, Rios Lieder in zeitlichen Kontext und illustrative Bühnenszenen zu setzen, um sie zu verstehen oder für sich zu gewinnen. Gleichwohl leistet das auf die gesamte Dauer kurzweilige, unterhaltsame, dynamische Stück genau das, und noch einiges mehr. Es bringt uns einen bedeutenden, gewiss streitbaren und deswegen so interessanten Künstler nahe und näher – oder überhaupt erst richtig ins Blickfeld.
Ein Best-of-Poptpurri ist das Stück aus genannten Gründen nicht – die Songauswahl dient der Erzählung, nicht umgekehrt. Einen smarten Kniff nehmen die Autoren dann zum Ende vor, wenn sie Rios schön-trauriges Liebeslied „Juni-Mond“ als letzte Nummer und zugleich – nach seinem frühen Tod (er starb mit 46) – als „Requiem“ platzieren. Das war von ihm vermutlich nicht so intendiert, lasse ich aber im Sinne eines hoch emotionalen Schlusspunkts durchgehen.
Noch ein Lob an die Soundtechnik: da sitzen offenbar Menschen an den Reglern, die wissen, wie man Rockmusik in einem Theatersaal abmischt und diesen zugleich bis oben in den Rang homogen und nicht zu laut auspegelt. So sind bei allen Songs alle Texte gut zu verstehen, auch wenn die Band mal abledert. Und bei allen Sprechszenen kommen die Nuancen der schauspielerischen Dynamik zur Geltung, von zartem flüstern bis wütendem brüllen.
Es ist eine fulminante Inszenierung und ein runder, energiegeladener, ja, energiespendender Theaterabend, den man bei und mit „Rio Reiser – Mein Name ist Mensch“ erlebt. Angeblich fand Katharina Thalbach das gesamte Ensemble „umwerfend“, wie Theaterchef Martin Woelffer allen rund 22 Protagonisten vor und hinter der Bühne bei der Premierenfeier zurief. Na, dann.
Den Segen von Rios Brüdern Gert und C. und Peter Möbius, sowie von den zwei Original-Scherben Funky Götzner und Kai Sichtermann, die alle bei der Premiere vor Ort waren, scheint die Aufführung jedenfalls zu haben. Na, bitte. In der oberen Etage des Foyers hängen zahlreiche Fotos von Rio aus dem Nachlass; eine kleine Foto-Ausstellung, die den Theaterbesuch zusätzlich reizvoll macht. Unbedingte Empfehlung.
Das Stück läuft noch bis Anfang November, täglich außer Montags.
P.S.: Ton, Stein, Scherben spielten Anfang 1971 im Quartier Latin Berlin und bekamen dafür kurioserweise große Aufmerksamkeit von Axel Springers BZ … . Das ist eine – im Rückblick – amüsante Geschichte und die steht im Buch „Quartier Latin – Berlins legendärer Musikladen 1970-1989“, von Marco Saß und mir.
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