Auf der Suche nach den Triebkräften von (Rock-)Musikern liefert der sehenswerte Dokumentarfilm „72 musicians“ aufrichtige Antworten und tiefe Blicke in Musikerseelen – sowie frische, hungrige und mitreissende Live-Musik
„Man steht vor fünf Leuten im Publikum, man weiss, dass man kein Geld verdient oder sogar draufzahlt, man hat keine Ahnung, wo man die Nacht pennen kann, zu Hause sitzt die Familie und der Hund und die haben nichts zu futtern, und dann denkt man – warum zum Teufel machst Du das hier eigentlich?“ Eine gute Frage, die der Musiker sich vor der Dokumentarfilm-Kamera stellt. Obwohl es eigentlich eine Antwort ist, zum Thema „in leeren Sälen spielen“. Denn so ein Erlebnis kennen ja praktisch alle Musiker, und spätestens zu so einem Tiefpunkt wird Musik, genauer gesagt das Musizieren, zur echten Sinnfrage: Wie weit reicht es, leidenschaftlich Musik zu machen, wenn man von dieser Leidenschaft nicht nur zehren, sondern auch leben will?
„Das Problem ist doch, dass es viel zu viele Bands gibt. Band A, Band B, Band C, überall Bands, tausende von Bands. Es gibt einfach zu viele Bands auf der Welt. Oh, Mann. Überall Bands, Bands, Bands Bands“, stöhnt ein anderer Musiker. Er wirkt erschöpft, aber nicht verzweifelt, abgeklärt, aber nicht abgestumpft. Nein, vor der Kamera, hinter der Bühne, vor dem neutral-schwarzen Interview-Vorhang und in der „erkläre-dein-Handeln“-Situation zeigen sich die vom Dokumentarfilm „72 musicians“ porträtierten Musikerinnen und Musiker als reflektierte Gesprächspartner mit einer gesunden Selbstwahrnehmung, fast schon zu aufrichtig, wenn auch nie wehleidig. Doch der zeigt sie ja auch in ihrem Element auf der Bühne, live performend, mitten in ihrer Musik, voll in ihren Texten und ganz bei sich selbst.
Da fordern sie dann mit der gesamten Kraft ihrer Stimmbänder und den Schwingungen all ihrer Saiten einen Lebensunterhalt für sich und ihre Musik ein: „We‘re asking for subsistance! We‘re asking for subsistance!“. Sie spielen sich genau die Seelen aus dem Leib, in die die Gespräche mit ihnen blicken lassen. Eine geradezu symbiotische Erzähle, die „72 musicians“ da gelingt, sehr gut gelingt sogar. Und das, obwohl man von Anfang bis Ende keinen einzigen Namen erfährt, weder von den aufgeführten Songs, noch von den aufspielenden Bands oder den redenden Personen. Gleichwohl – oder deswegen – gelingen dem Film zahlreiche erweckende Momente. Es sind Momente, in denen irgendwie universale, sprich für sehr viele Künstler geltende Erkenntnisse aufleuchten oder auch erklingen.
Der Film soll nicht empfohlen werden, weil diese oder jene Band vorkommt sondern als Film, der etwas über Musiker und ihre Triebkräfte mitteilt
Die Anonymisierung von Musikern und Bands, der Verzicht jeglicher Text-Einblendungen hat Methode. (Tatsächlich war es ein strikte Vorgabe der Filmemacher, dass die Musiker keine Namen und auch keine Orte erwähnen sollten). Namens-bezogene Vorbehalte oder Zuordnungen sind dem Zuschauer somit unmöglich, es stehen allein die Menschen und ihre Aussagen im Raum. Wie die Bands heissen, dass alle aus Kansas City stammen und sich – zum Zeitpunkt der Dreharbeiten – allenfalls regionaler Bekanntheit rühmen konnten, erfährt man noch nicht einmal im Abspann, sondern lediglich von der begleitenden Website, auf die der Film am Ende verweist.
Damit gehen Regisseur Bob Moczydlowsky und sein Team der Gefahr einer Wertung oder Priorisierung der ins Bild gesetzten Acts aus dem Weg. Und sie entkräften den möglichen Vorwurf des Name-Droppings: Der Film soll nicht empfohlen werden, weil diese oder jene (mittlerweile vielleicht berühmt gewordene) Band vorkommt. Sondern als Film, der etwas über Musiker als solche und vor allem über ihre Triebkräfte mitteilt.
Als Zuschauer nicht zu wissen, wer da vor Kamera sitzt und spricht, fokussiert darauf, allein den Menschen zu sehen, ganz und gar den Musiker, den Künstler. Gesichter, Mimik, Gesten fängt die Kamera mit extremen Naheinstellungen auf Hände, Gesichtspartien und minimale Körperbewegungen ein. Und genau diese Körpersprache, die sich in Kleidung, Sitzhaltung und Attitüde fortsetzt, erzählt viel, was die Musiker gar nicht verbalisieren, was ihre Songs und ihre Performances dann aber durchaus zu transportieren vermögen. Musik als Protest, als Ausbruch, als Schicksal wie auch als optimales Ausdrucksmittel.
Die im Film vorkommenden Musiker spielen auf professionellem Niveau, sehr, sehr gut. Zwar kann keiner wirklich seine Existenz davon bestreiten, nahezu alle berichten von Nebentätigkeiten oder Berufen. „Jobs“ indes, stets im Schatten ihrer Musik, die bei passender Gelegenheit sofort der musikalischen Karriere geopfert würden. Viele haben schon mehrere Bands und Musiker-Stationen hinter sich, einer berichtet sogar von vielen Jahren im Musikbusiness, als Mitarbeiter eines größeren Labels.
Seine Aussage zu den Geschäftsgebahren der Musikbranche – wie sie in den 80er und 90er Jahren an der Tagesordnung sind – ist ein Schlüsselmoment des Films. Weil es ihm am Ende zuwider ist, Musikerkollegen zu belügen – im Auftrag der abgezockten Manager, die Bands ins Studio schicken und ihnen eine Veröffentlichung versprechen, diese dann aber voller Kalkül nie realisieren – kündigt er und geht seither seine eigenen Label-Weg, lebt das mühevollere, für ihn aber aufrichtigere Leben. „Ich weiss, dass ich als Musiker auf Dauer arm leben werde“, erzählt passend dazu ein anderer, „dafür habe ich mich aber bewusst entschieden und dazu stehe ich. Weil es mir um die Musik geht, und nicht um Millionen.“
Musiker, die man in jeder grösseren Stadt findet: die Talent und Kreativität, Fleiss und Beharrlichkeit, Handwerk und Musikalität haben, die sich den Arsch für ihre Musik aufreissen
Die Antworten der Musiker sind nicht wirklich neu oder sensationell. Wer sich mit Musik beschäftigt und über Musik liest, der hat in zahlreichen Interviews Aussagen dieser Art das x-mal gelesen. Seine Eindringlichkeit entfaltet „72 musicians“ indes dadurch, dass es eben keine bekannten Gesichter, Stars oder Promis sind, die als Quasi-Millionäre nostalgisch über ihre Wurzeln in kleinen Clubs reflektieren. Es sind auch keine aktuellen Chartbreaker, kurzzeitig vom Erfolg verwöhnte Glückspilze oder abgestürzte Diven. Dies hält den konsistenten Film komplett frei von aufgesetzten oder aufgedrehten Attidüden und Plattitüden. Die, die vorkommen, sind diese typischen, leidenschaftlichen Musiker, die man in jeder grösseren Stadt findet: die Talent und Kreativität, Fleiss und Beharrlichkeit, Handwerk und Musikalität haben, die sich den Arsch für ihre Musik aufreissen – nur eben nicht zu jenen zählen, die auch von der Musik leben können. Noch nicht, oder vielleicht auch nie. „Es ist einfach nur Glück“, schmunzelt der Vollbärtige lakonisch, „man braucht einfach Glück“.
Die Filmemacher fragen knapp und gerade heraus, doch genau das verschafft ihnen oft grüblerische, „laut gedachte“, impulsive, ungestelzte Antworten. „Was hast Du für die Musik schon geopfert?“ wollen sie beispielsweise wissen. Ein stoßgeseufztes Lächeln ist die Reaktion, die sagt: Ziemlich viel, unvernünftig viel, ich weiss, ich weiss, ich weiss. „Ich habe etwa 75 Prozent meines Lebens und meines Geldes der Musik geopfert“, sagt eine. Und mit Empörung und trockener Ironie setzt ein Rapper einen drauf: „Um als Rapper wirklich richtig berühmt zu werden, musst du ermordet werden, bevor du 30 bist. Naja, ich bin 25, da muss ich mich ranhalten“, sagt er in einem Duktus, als wäre es ein Songtext von ihm.
Die Musiker, Mitte 20 bis Ende 30, zeigen sich in den Gesprächen sympatisch realtitätsnah und geerdet (als Belohnung dürfen sie am Ende, gefragt nach ihrem allerverrücktesten Traum, von großen Bühnen, satter Lichtshow, Top-10-Album oder 500.000 Zuschauern schwärmen). Fast alle haben Kinder beziehungsweise Partner und stehen ebenso zu ihrer Verantwortung für die Familie, wie auch zu Alkohol und Drogen als unvermeidliche Begleiterscheinung des Musikerdasein – beides gilt es irgendwie zu handeln, zu vereinbaren, zu versöhnen, womöglich. Sie wissen um ihre geringen Chancen, regen sich aber auch darüber auf, wenn ihnen aus dem Umfeld umgehend Vorwürfe gemacht werden, sobald sie mal für eine Firma auftreten oder irgend etwas „kommerzielles“ machen. „Die haben doch gar keine Ahnung, was es heisst, sich als Musiker durchzuschlagen“, höhnt einer. Ein wütender Punk-Song erklingt.
„I just can‘t turn it off“. Man kann die Musik nicht aufgeben, welche überirdischen Mächte da auch immer am Werk sind
Hungrig sind sie noch, aber keineswegs mehr unbeleckt. Ihnen tut es sichtlich weh darüber zu erzählen, wie sie aus einer Band flogen oder sich ihre Band auflöste, alle kennen das Gefühl, völlig am Boden zu sein, an sich selbst zu zweifeln, wenn sich der Erfolg mit der Musik nicht einstellt oder wenn sie von anderen fallen gelassen wurden. Aber in den, mitunter arg gegerbten Gesichtern steht die unbedingte Liebe zur Musik geschrieben. „I just can‘t turn it off“ heisst der passende Song dazu, geradezu herausgeschrien. Und in einer Live-Szene wälzt sich der verausgabte Sänger fast vom Bühnenrand, stützend gehalten und zugleich weiter angetrieben von seinem Publikum. Man kann die Musik als Musiker eben nicht aufgeben, welche überirdischen Mächte da auch immer am Werk sind. „Man liebt das Spielen auf der Bühne, vor Menschen, man will sie unterhalten, glücklich machen, immer und immer wieder“, sagt einer, „man muss die Menschen mögen“.
Musikalisch bietet der Film Rock in seinen Variationen, mal experimentell wie einst die Talking Heads, mal Hardcore wie Rage Against The Machine, mal poetisch wie Joni Mitchell. Die eingeschnittenen Live-Auftritte zeigen und lassen erklingen, was irgendwie gesagt wird und irgendwie auch wieder nicht gesagt wird. Dass dabei innerhalb weniger Tage alle Bands am gleichen Ort auftraten (im recordBar-Club in Kansas City), erleichterte die Dreharbeiten, machte das Ganze vermutlich auch finanziell realisierbarer. Zudem sind dadurch alle Bands in gleicher Weise ausgeleuchtet und aufgenommen, keine wird inszenatorisch hervorgehoben, alle kommen hervorragend weg. Rein filmtechnisch gesehen machen das vielseitige Licht, die warmen Farben und der grandiose Sound die rund 80 Minuten zu einem Genuss.
Man mag sie hinterher immer noch für unvernünftig halten, aber man wird sie auch irgendwie mögen, mit ihren Spleens und Obsessionen, und vor allem für ihre Musik
Man wünscht „72 musicians“ die grosse Leinwand und eine richtig gute Anlage, denn der Film sollte bei der Aufführung auch technisch gehörig rocken. Bisher erhielt er einige Festival-Screenings, auch Absagen. Die Produktion ist praktisch ein Selfmade-Unternehmen, geht auch im Vertrieb neue Wege.
Man kann den Film online kaufen und direkt herunter laden, wobei man zum Film auch das Soundtrack-Album erhält. Das Minimal-Paket ist eine MPEG-Version, also für Mobilgeräte und Kleinbildschirme für knapp 8 US-Dollar, also rund 6 Euro -wohlgemerkt für einen abendfüllenden Film plus einem kompletten Soundtrack-Album. Es gibt auch HD-Versionen und man kann ihn als DVD kaufen, zum Teil mit T-Shirt oder Poster (wobei der Versand ausserhalb der USA zusätzlich Porto und Zoll kosten kann). Als absolute Besonderheit lässt sich das Werk auch mitsamt einer 2 Terrabyte-Festplatte kaufen, auf der sich dann das Rohmaterial des Films befindet – in Creative Commons-Lizenz – , zur eigenen Bearbeitung, wenn man denn will. Paketpreis: knapp 400 US Dollar.
Jedem, der sich für Rockmusik und die Motoren in den Musikern näher interessiert, sei „72 musicians“ unbedingt empfohlen. Mit tiefer Empathie für diese Spezies Mensch und mit Liebe zu ihrer Passion dringt der Film auf warme und menschliche, aufrichtige und nahegehende Art zur Beantwortung der Ausgangsfrage vor „Wieso machen Musiker Musik?“ Man mag die „Musicians“ hinterher immer noch oder erst recht für unvernünftig halten, aber man wird sie auch irgendwie mögen, mit ihren Spleens und Obsessionen. Und vor allem für ihre tolle Musik. Ob der Film den Bands karrieremäßig hilft, steht nicht zur Debatte, zumindest beabsichtigt er das nicht. Aber gerade deswegen könnte es ihm gelingen.
Die Website zum Film: 72musicians.com/blog/
Der Online-Store: 72musicians.com/store/