„Wort-des-Jahres“-Redaktionen und Sprach-Forscher, aufgemerkt:
Ihr glaubt „Wikileaks“ sei der Favorit für das Jahr 2010?
Lächerlich!
Am „Rettungsschirm“ käme man bei der diesjährigen Wahl nicht vorbei?
Erbärmlich!
Die „Aschewolke“ des isländisches Vulkans, „Eyjafjallajökull“, die den Himmel über Europa verdunkelte ruhig stellte, sei eine heisse Anwärterin?
Drittklassig!
Mit großem Abstand fährt ja wohl ein einziges Wort voran.
Ein Wort, dass ihr nur dann nicht auf eurem Fahrplaner habt, wenn ihr ausschließlich Auto fahrt.
Ein Wort, dass ich und mit mir viele, viele, viele tausend, zehntausend, ja, Millionen Bahnfahrer in beiden 2010er Wintern nicht nur oft, also, nicht irgendwie so normal oft, so durchschnittlich oft, so oft eben, nein, sondern so richtig, richtig, richtig oft zu hören bekamen.
Ein Wort voller Poesie, Kraft und Induktionsenergie – die besonders auf reizbare Magenschleimhäute einwirkt.
Ein Wort, dass uns auf zugigen und seltsamerweise gleichzeitig Zug-losen Bahnsteigen „die Stimmen“ verkünden, in einer Art Endlosschleife, mit hypnotischer Absicht und geradezu schicksalsgesteuert:
Weichenstörung
Na, quietscht da was hoch? Plus fünfzig Minuten bei minus zehn Grad, da war doch bestimmt mal was … klar: Eine
Weichenstörung
Ist es nicht ein Wort, ist es nicht das Wort, in dem sich so einige Themen und Topics des ausrollenden Jahres widerspiegeln?
Etwa, die Unfähigkeit der Politik, moraldefizitäre Finanzmarkt-Zocker auf ein Nebengleis der Macht zu schicken – was für eine kapitale, ja, Kapital-hörigeWeichenstörung!
Etwa, die Unmöglichkeit selbst slawischster Eurovisions-Länder, die übliche „wir-rufen-nur-für unsere-Nachbarländer-an“-Schiene zu fahren – der überwältigende Charme von Lena Meyer-Landrut führte zu einer nachhaltigen „our-12-(11)-(10)-points-are-going-to“-Weichenstörung.
Etwa, die Selbst-Abfahrt auf’s politische Abstellgleis durch ExAlt-Bundespräsident Horst Köhler – ist doch nur mit einer Weichenstörung zu erklären, wenn auch vermutlich durch Interview-Skandal-Frost bei einem unterbeheizten PR-Berater.
Weichenstörung
Ist ja auch ein vollkommen un-denglischer, ja, geradezu typisch deutscher Begriff. Klingt irgendwie, hat was, nicht wahr?
Könnte sich auch unübersetzt in anderen Sprachräumen durchsetzen, so wie „Rucksack“ und „Schlagbaum“ im Russischen. Oder „Kindergarten“ im Englischen.
Der Autohersteller VW hatte doch mal diese Werbekampagne in den USA mit dem Begriff „Fahrvergnügen“, das hat, glaube ich, sogar funktioniert.
Wer das Wort also mal wie ein Amerikaner ausspricht, entdeckt in „Weichenstörung“ genau den gleichen phonetischen Zauber. Und hat es nicht auch, wie „Fahrvergnügen“, dieses Reduzierte, dieses Prägnante, diesen „Charakter“?
Na, los, gebt’s zu, „Weichenstörung“ hat es!
Mit der alternativlosen Wahl von „Weichenstörung“ zum Wort des Jahres 2010 gäbt ihr, liebe Betriebszentrale Jury, das richtige Signal. Denn „Weichenstörung“ vereint das Gefühl einer ganzen Generation riesigen Fahrgast-Leidens-Gemeinschaft gegenüber einem staatlichen Personentransport-Dienstleister, und das geradezu kongenial in einem Spurweiten-Sprachgrenzen-übergreifenden Begriff der 1. Klasse:
„Ahh, well, it’s Weichenstörung“
„Dawei, dawei, Tawarishi, Weichenstörung!“
„Do you know about this Weichenstörung?“
„Give me that sweet bitter Weichenstörung-Feeling“
Die Deutsche Bahn sollte sich den 1-Wort-Claim „Weichenstörung“ schnellstens schützen lassen, diesen Rat knipst ihr mir als Wort-des-Jahres-Schaffner bestimmt ab. Schon allein, damit uns beim Texten nicht mehr solche längst überholten Fehleransagen ausbremsen:
Kurzum, der Fahrplan sollte stehen, ihr wisst, wohin die Reise geht. Und macht bei euren Sitzungen jetzt nicht auf „Verzögerungen im Betriebs-Beratungs-Ablauf oder womöglich sogar auf Entscheidungsprobleme. Das letzte was ihr euch dieses Jahr erlauben könnt, ist eine … na, ihr wisst schon.
Entrückt bleiben, bitte!