Etwas finden ist das eine – sich darum zu bemühen, dass die Fundsache zurück zum Besitzer kommen kann, ist das andere. Ähnliches gilt heutzutage aber auch für brisante Ereignisse und Motive, die man gefilmt oder fotografiert hat. Derlei „mediale Fundstücke“ einfach in soziale Netzwerke „abzugeben“, kann sich als unverantwortlich herausstellen.
Sie hatte ihre Jahreskarte für die Berliner Museen verloren. Dabei wäre diese noch einige Monate gültig gewesen – zu schade aber auch. Und meine Bekannte konnte partout nicht rekonstruieren, wo ihr das geliebte und wertvolle Kulturticket abhanden kam.
Einige Tage später meldet sich eine fremde Dame bei ihr, und zwar via Facebook. Sie habe die Jahreskarte in einem Supermarkt gefunden, und dann nach dem darauf eingetragenen Namen auf Facebook gesucht – Bingo!
Schöne Geschichte. Wobei diese „Methode Facebook“ heute vermutlich als eine der naheliegendsten gilt. Bislang griff man in solchen Fällen zum Telefonbuch – doch diese Kulturtechnik ist mittlerweile museumsreif. Wer im Zeitalter des Internets nach einer Person fahndet, der googelt oder sucht in sozialen Netzwerken (und erfährt mitunter weit mehr über eine Person, als selbst ein Telefonbuch fassen könnte … aber darauf will ich an dieser Stelle gar nicht hinaus).
Verantwortung für’s Fundstück
Bemerkenswert finde ich, dass die Finderin sich nicht damit begnügte, die werthaltige Fundsache einfach im Supermarkt abzugeben. Wie sie meiner Bekannten im Chat erklärte, wäre es ihr zu ungewiss gewesen, ob sich die Besitzerin dort wirklich melden würde. Daher machte sie sich die Mühe, die Besitzerin der Jahreskarte aufzufinden, um die Rückgabe der verlorenen Karte sicherzustellen. Und das bedeutet: sie übernahm damit Verantwortung für’s Fundstück.
Dies mag manchen „selbstverständlich“, anderen „ehrenwert“ erscheinen – meiner Ansicht nach gibt dieses verantwortungsbewusste Handeln einen Hinweis auf unser Verhalten in den sozialen Medien, in denen wir als „Prosumer“, als „produzierende Konsumenten“ gelten; einen Hinweis darauf, was dort „verantwortungsbewusstes Finden“ meint.
Fast jeder kennt das heutzutage: Da geschieht unmittelbar vor einem etwas Kurioses, Amüsantes oder Dramatisches, beispielsweise eine Havarie, ein Missgeschick, eine spontane Darbietung. Unwillkürlich ist man versucht, das Smartphone zu zücken, um den Moment festzuhalten. Und wer dann tatsächlich filmt oder fotografiert, der ist nicht mehr nur Zeuge eines Ereignisses, er ist sozusagen dessen „Finder“, weil er es mit der Kamera-App buchstäblich „festhält“. Und ab diesem Moment ist er verantwortlich dafür, welchen „medialen“ Weg diese Aufzeichnung nimmt – und zwar als allerster.
Meist wiegt diese Verantwortung nicht schwer, etwa bei Bildern von schönen Sonnenuntergängen, tolpatschigen Hundewelpen oder perfekten Diner-Arrangements. Doch sofern auf den Bildern Menschen gut erkennbar sind, oder sich vor dem Aufnahmegerät Unfälle oder Katastrophen abspielen, wenn Opfer oder Täter zu sehen sind, dann ist auf jeden Fall Verantwortungsbewusstein gefordert. Klingt selbstverständlich – ist es für viele jedoch scheinbar nicht.
Die Medialpolizei rät
Darauf wies seinerzeit die Münchener Polizei eindringlich hin, im Verlauf und im Nachgang des Amoklaufs am Einkaufszentrum. Die Beamten erklärten, dass in Echtzeit verbreitete Videos, die Polizisten beim Einsatz zeigen, den gejagten Tätern zuspielen könnten; und dass Bilder von Tatorten mitunter weit mehr bei den Ermittlungen helfen, wenn sie nicht sofort veröffentlicht sondern zuerst bei der Polizei eingereicht würden. Dieser Rat der „Medialpolizei“ ist insofern ungewöhnlich, weil sie sich damit explizit an Nutzer mobiler Aufnahmegräte und sozialer Netze wandte.
Und damit hat sie recht: denn es liegt heutzutage zuallererst und wortwörtlich in unserer Hand, ob wir Fotos oder Filme für uns behalten, an Freunde senden oder in sozialen Netzwerken und damit mehr oder weniger öffentlich verbreiten; oder ob wir sie gezielt an Polizei, Behörden oder auch Medien senden.
Dass „die Medien“ hierbei vielen nicht (mehr) als vertrauenswürdige Adresse gelten, ist bedauerlich, wenn auch teilweise von Medienproduzenten selbst verschuldet. So lösten unter anderem die unsensiblen Berichte zur Germanwings-Tragödie und die Fotos von toten Flüchtlingen in einem Lastwagen kontroverse Debatten über den Umgang mit solchen Bildern aus. Zwar reagierten die hauptberuflichen Medienakteure darauf, indem sie Selbstverpflichtungen neu aushandelten und neu justierten. Doch ihre moralische Glaubwürdigkeit bleibt angeschlagen und müssen sich viele Redaktionen neu aufbauen.
Die sozialen Netzwerke hingegen hatten diese Glaubwürdigkeit nie – und wollen sie wohl auch gar nicht. Seitens der Betreiber von Facebook, Twitter und anderen hört und weiß man, dass sie sich nicht als Medien sondern als reine Verteilerplattform ohne redaktionelle Instanzen verstehen; und dass sie erst eingreifen, wenn man sie auf rechtswidrige, hetzende oder – neuerdings – Lügen verbreitende Inhalte aufmerksam macht. Dann löschen und sperren sie auch mal.
Wo sie jedoch ihre moralischen, ethischen oder kulturellen Grenzen ziehen, behalten sie für sich. Dem Pressekodex, diesem umfassenden Verhaltensregelwerk, zu dem sich die allermeisten Verlage und Sender in Deutschland freiwillig verpflichten, hat sich jedenfalls noch keines der sozialen Netzwerke angeschlossen. Stattdessen definieren ihre Nutzungsbedingungen – die jeder anerkennt, der einen Account einrichtet – , dass die Nutzer verantwortlich für die Inhalte sind, die sie reinstellen. Und diese Verantwortung betrifft rechtliche ebenso wie moralisch-ethische Normen.
Wer also bestimmte, als brisant einzustufende Bilder, auf denen Menschen oder Tatorte oder Unfälle zu sehen sind, einfach bei irgendeiner Online-Plattform hochlädt oder von Apps automatisch hochladen lässt oder einfach teilt oder weiterverbreitet, der läuft Gefahr, damit schlicht verantwortungslos zu handeln. Das ist so ähnlich, als wenn man offenkundig wertvolle Fundsachen einfach irgendwo hinlegt oder liegen lässt – womöglich gut gemeint, aber gar nicht gut gemacht.
Wohin mit medialen Fundsachen?
Wenn man „brisante“ mediale Fundsachen hat, sollte man überlegen oder erfragen, ob diese Bilder jemandem nützen oder etwas bewirken könnten; und dann erkunden, wo diese Bilder wirklich gut aufgehoben sein könnten. Kurzum: dann sollte man sich als „Finder“ etwas Mühe damit machen.
Vielleicht sollte es so etwas wie „Prosumer-Fundbüros“ geben: unabhängige, transparent und gemeinnützig arbeitende Einrichtungen, die bei Zweifelsfällen beraten, vermitteln oder die Sache direkt übernehmen.