Vor kurzem veröffentlichte die deutsche Band Can auf ihrem eigenen Label Spoon Records unter dem Titel „The Lost Tapes“ eine 3er-CD mit insgesamt 30 Tracks. Wie der Titel vermuten lässt, handelt es sich um verloren gegangene und daher bislang unveröffentlichte Aufnahmen. Das erfreut die Fans der schon immer als zeitlos geltenden und stets experimentierfreudigen Band, und nach erstem schnellen Durchhören lassen sich tatsächlich einige neue Perlen im Can-Oeuvre ausmachen. Gute Idee, also, diese „Lost Tapes“ in den Verkauf zu bringen. Doch die ersten sind Can damit keineswegs, ganz im Gegenteil.
„The Lost Tapes“ hat das Zeug, der am häufigsten verwendete Albumtitel aller Zeiten und für alle Ewigkeit zu sein, sofern man Zusammenstellungs-Benamungen wie „The Best of“ oder „Anthology“ vernachlässigt. Allein die Abfrage im iTunes-Store liefert über 150 Alben, die „The Lost Tapes“ heissen oder in denen der Term „The Lost Tapes“ vorkommt (siehe nebenstehende Grafik, per Klick vergrößerbar).
Angesichts dieser Anzahl stellt sich die Frage, ob hinter all diesen Veröffentlichungen nun tatsächliche eine Entdeckung von verschollenen „Bändern“ in irgendeiner Kiste, Schublade oder Regalecke steckt? Oder womöglich „nur“ der lang diskutierte Entschluss, bislang aussortierte Aufnahmen nun doch herauszugeben? Oder ist „The Lost Tapes“ nicht längst eine Marketing-Masche, mit der – den Jäger- und Sammler-Instinkt ansprechend – Fans und Liebhabern Geld aus der Tasche gezogen werden soll? Die Beantwortung dieser Fragen ist am Ende vom Vertrauen zu den Musikern und ihrem Umfeld abhängig, dem Label, dem Management.
Was mich hier aber interessiert, ist die Gestaltung dieses an sich stereotypen Album-Konzepts. Denn gerade wenn oder weil es sich bei „Lost Tapes“ meist um eine Art „Sammelsurium“ alter Aufnahmen handelt, folgen die darauf vereinten Songs ja keinem musikalischen oder narrativen Konzept, gibt es keine vereinende Botschaft und damit auch keine inhaltlichen oder ästhetischen Leitfäden, an denen sich die Gestalter orientieren könnten. Und dies führt entweder dazu, die Aussage des Titels „The Lost Tapes“ zu ignorieren und schlicht die Künstler in den Mittelpunkt zu stellen. Oder die „verlorenen Bänder“ rücken ins Blickfeld der Covergestaltung. Beispiele für beide Richtungen zeigen sich in der folgenden Zusammenstellung:
Weil heutzutage kaum einer mehr Tonbandspulen oder Bandkassetten zum Musikhören benutzt und auch in den Studios die Aufnahmen immer seltener mit Bandmaschinen erfolgen, halte ich die Stilisierung von (vermeintlich) verloren geglaubten „Bändern“ für ein interessantes Phänomen einer Übergangszeit. Erstens müsste es ja heutzutage eher „The Lost Harddisks“ heissen („die verschollenen Festplatten“ – wäre ja auch ein schöner Punkband-Name). Oder auch „The Lost USB-Sticks“ ;-) Zweitens landen viele Aufnahmen vermutlich direkt in irgendeiner „Cloud“, also einem entfernten Server. Das heisst, wir können wohl bald Albumtitel wie „The Lost Clouds“ erwarten …
Doch zurück zu der Gestaltung von „Lost Tapes“-Alben, die sich mehrheitlich an Spulen und Kassetten der „Bänder“-Ära abarbeitet. Die anfangs erwähnte Can-Veröffentlichung setzt auf Authentizität und orientiert sich an den Pappschachteln von großen Tonband-Spulen, wie sie in den Aufnahmestudios in den 70er Jahren üblich waren (der Glanzzeit der Band). Die 3 CD’s enthaltene Can-Box misst etwa 26 Zentimeter Kantenlänge (10 Inch). Links oben in der Ecke die stilisierte Form der Spulen mit ihren markanten, gestanzten Metallscheiben. Dazu als Aufdruck die Band-Länge „540m“ (was rund 1800 ft, also englische „Fuß“ entspricht). Sehr schön auch die Beschriftung von Hand am Packungsrücken sowie das ebenfalls beschriftete Klebeband . Die britische Website Creative Review stellt die wirklich liebevolle gemachte Can-Verpackung als „Record Sleeve of the Month“ besonders ausführlich vor (mit vielen Fotos des beiliegenden Booklets).
In eine ähnliche Richtung ging die „The Lost Tapes“-Veröffentlichung der britischen Reggae-Band UB40, nur dass das Label hier die CD-Größe wählte. Doch die Handschrift auf einer Art Roh-Band und die fotografische Nachahmung der Tonbandspule machen die Anmutung sehr plastisch.
Mit den typischen Tonstudiospulen, die quasi „offen“ sind, weil sie in den Bandmaschinen nur liegend laufen, arbeitet das „Lost Tapes“-Album des deutschen Rappers Phrase.
Bandsalat und handbeschriftete Klebestreifen auf einer durchsichtigen Bandkassette zeigt die „Lost Tapes“-Veröffentlichung von J-Kwon.
Ganz auf das Magnetband selbst beschränkt sich die Umsetzung der Lost-Tapes-Idee beim Rapper Häzel.
Das Band ist unter Wasser, offenbar vereist, zum ohnehin sehenswerten Artwork des Albums gibt es eine schöne Umsetzung als Trailer-Video:
Konsequenterweise gibt es das Album auch als Kassette beziehungsweise im CD-Kassette-Bundle:
Eine Art Fusion von Tonbandspulen aus dem Studio und Bandkassetten für die Hörer bietet die „Lost Tapes-“-Veröffentlichung der Guano Apes an:
Mit der Idee „in ’nem alten Koffer gefunden“ geht das Cover des „Lost Tapes“-Albums des US-Rappers Nas zu Werke:
Naja, aber als Standard und beinahe schon als Klassiker des „Lost Tapes“-Artworks muss die irgendwie ins Gesamtbild integrierte Bandkassette gelten. Stellvertretend dafür sei das Kanye West-Album abgebildet:
Ach, und überhaupt scheinen Hiphop- und Rap-Künstler- und Labels vom „Lost Tapes“-Konzept besonders überzeugt zu sein. In meiner ad hoc-Privatstatistik zumindest sind auffallend viele „Lost Tapes“ dieses Genres zu finden. Ob das nun nur Attitüde ist oder einfallslose Nachahmung, man kann es getrost offen lassen. Ihren Beitrag zum Gedenken an die Medienkultur-Technlogien „Tonband“ und „Bandkassetten“ leisten sie mit ihren „Lost Tapes“ vermutlich schon.
Bis dann die ersten „Lost in the Cloud“-Alben herauskommen (siehe oben), haben die Gestalter ja noch ein bisschen Zeit, sich was hübsches zu überlegen. Ich sehe schon massenhaft Wolken-Artwork, „vom Winde verwehte“ – und doch wieder gefunden …. ;-)