Peter Tschmuck: „Streaming können Musiker als Einnahmequelle vergessen“

Welche Rolle spielen soziale Medien, Streamingdienste und die wachsende Macht der Verbraucher im heutigen Musikmarkt? Wie verändert sich das Geschäft mit der Musik? Auf diese und weitere Fragen antwortete mir der Musikwirtschaftsforscher Peter Tschmuck in einem Interview für iRights.info  (veröffentlicht unter CC BY-ND).

iRights.info: Verlieren die bisherigen Musikmittler ihre Funktion?

Peter Tschmuck: Ich würde sagen, sie haben sich neu erfunden. Die tradierten Plattenlabel haben viele neue und zusätzliche Funktionen übernommen: Sie bieten mittlerweile Künstlermanagement an und versuchen mit 360-Grad-Verträgen an den verschiedenen Einnahmequellen der Künstlerinnen und Künstler zu partizipieren. Zudem findet bei diesen Firmen derzeit ein Umbruch der Geschäftsmodelle statt in Richtung Rechteverwertung und Lizenzgeschäft, um ganze Kataloge auf einmal zu verkaufen, etwa an die Musikstreamingdienste.

Screenshot: Spotify
Screenshot: Spotify

iRights.info: Was meinen Sie mit 360-Grad-Verträgen?

Peter Tschmuck: Dabei überträgt der ursprüngliche Rechteinhaber, also die Künstlerin oder der Künstler, nicht nur die Rechte an den musikalischen Werken, sondern beispielsweise auch anteilige Einnahmen aus dem Live-Geschäft oder die Rechte bei Branding und Merchandising. Das kann sehr breit werden, sodass die Firma bei der gesamten Vermarktung anteilig verdient, online wie offline.

Solche 360-Grad-Verträge gibt es in diesem Business zwar schon länger. Der erste wurde noch von der EMI mit Robbie Williams abgeschlossen, später setzte sich „Livenation“, der international agierende Live-Musik-Veranstalter, im Musikbusiness durch. Mittlerweile sind solche Verträge aber die Regel, bei den Majors genauso wie bei den Indies, also den unabhängigen Labels.

Peter Tschmuck ist Professor am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst. Er lehrt und forscht dort zu Kulturwirtschaft und -industrie, Kulturwissenschaft und -betriebslehre sowie zu Kunst- und Kulturökonomie. In diesem Rahmen beschäftigt er sich seit vielen Jahren mit der internationalen Musikwirtschaft und ihrer Entwicklung. Foto: Magdaléna Tschmuck

iRights.info: Bekommen die Labels damit nicht einen noch größeren Zugriff auf die Rechtepalette der Urheber? Liefern sich die Künstlerinnen und Künstler den Labels komplett aus?

Peter Tschmuck: Sie liefern sich ihnen nicht nur aus, sondern müssen den Firmen auf Basis sogenannter Bandübernahmeverträge die fertige Musikproduktion in Form des Masterbandes abliefern. Die Künstlerinnen und Künstler müssen mittlerweile oft auch für die Finanzierung sorgen, zum Beispiel mittels Crowdfunding. In den Verträgen ist dann etwas verklausuliert von „finanzielle Kooperation“ die Rede. Ich kenne solche Verträge bisher nicht im Detail, aber ich habe von Künstlerinnen und Künstlern immer wieder davon gehört.

Im Grunde nehmen die Label heutzutage nur jemanden unter Vertrag, der seine Fanbasis schon aufgebaut und sich in den sozialen Medien bereits etabliert hat. Ansonsten ist ein Major am Aufbau eines Künstlers gar nicht interessiert. Die Indies vielleicht noch eher, aber auch die sehen sich an, wie die Klickraten auf Youtube aussehen, wie gut ein Künstler auf Facebook und in ähnlichen Medienkanälen vernetzt ist. Künstler und Künstlerinnen müssen komplett markttauglich sein, um einen Vertrag zu bekommen.

Es stellt sich die Frage, ob es für Künstler nicht sinnvoller wäre, zusammen mit einem eigenen Management gleich alles selbst zu machen – und nur dann auf Labels zuzugreifen, wenn sie spezielle Leistungen brauchen, beispielsweise für einen europaweiten oder internationalen Release, den sie alleine nicht schaffen würden. Auf diese Weise ergeben sich neue Formen der Zusammenarbeit, für die sich die Künstlerinnen und Künstler nicht mehr vollständig den Labels ausliefern müssen. Allerdings brauchen sie eine entsprechende Marktmacht, um das umsetzen zu können.

iRights.info: Wer kümmert sich denn heute darum, talentierte Musiker aufzubauen, sie markttauglich zu machen und ein Publikum für sie aufzubauen?

Peter Tschmuck: Das machen tatsächlich die Künstlerinnen und Künstler selbst. Ab einer bestimmten Größe werden sie dann interessant für Management-Agenturen, die bei ihnen einsteigen und sie dabei unterstützen, sich am Markt zu positionieren. Da gibt es mittlerweile eine Fülle von Dienstleistern, die einen Teil der Aufgaben erfüllen, die früher bei den „Artists & Repertoire“-Abteilungen der Labels angesiedelt waren.

Hinzu kommt eine Tendenz, dass Akteure von außerhalb als Musikmittler fungieren und Partner für neue Kooperationsformen werden. Man denke nur an die Kaffeehauskette Starbucks, die eine Zeit lang ein Plattenlabel betrieb und große Namen unter Vertrag hatte, wie zum Beispiel Paul McCartney. Oder auch große Handelskonzerne, wie Walmart in den USA, die ebenfalls Exklusiv-Verträge mit Künstlern hatten, etwa mit den Eagles. Auch bei Apple zeichnet sich ab, dass das Unternehmen „Artist & Repertoire“-Arbeit leistet.

iRights.info: Sind das nicht eher befristete Marketing-Aktivitäten dieser Unternehmen, um das eigene Image aufzupolieren oder den Verkauf in den eigenen Läden anzukurbeln?

Peter Tschmuck: Das ist zum Teil tatsächlich so, zum Beispiel bei Firmen wie Starbucks und Walmart oder auch Apple. Aber wenn wir die neuen Plattformen, wie zum Beispiel Youtube betrachten, dann haben sie mittlerweile damit begonnen, Künstler in ihrer Entwicklung aktiv zu unterstützen. So konnte sich die englisch-portugiesische Singer-Songwriterin Ana Free allein durch ihre Youtube-Videos eine weltweite Fanbase aufbauen. Sie hat es inzwischen zu gemeinsamen Auftritten mit Shakira und James Taylor gebracht.

Ich befürchte allerdings, dass auch bei diesen Playern die vertragliche Gestaltung nicht zu Gunsten der Künstler ausfällt und es zu Abhängigkeitsverhältnissen kommt. So hört man bereits Klagen von Youtube-Künstlern, dass die Verträge mit denen von Major-Companies vergleichbar wären, was die Übertragung von Exklusivrechten angeht. Die US-amerikanische Crossover-Cellistin Zoe Keating hat zu Beginn des Jahres öffentlich Klage gegen Youtube über die Lizenzbedingungen erhoben, wonach sie nicht mehr frei entscheiden könne, wann und wo sie ihre Musik veröffentlicht.

Es geht eigentlich immer um exklusive Auswertungen der Rechte, das bringt den Unternehmen am meisten – den Künstlern aber am Ende in aller Regel zu wenig.

iRights.info: Sie sagten einmal, dass die Urheber und die ausübenden Künstler im Musikgeschäft die schwächste Position hätten. Ist das nach wie vor so oder ändert sich das gerade?

Peter Tschmuck: An sich stehen die Künstlerinnen und Künstler heute wieder mehr im Zentrum der Wertschöpfung, weil von ihnen alle maßgeblichen Einnahmequellen abhängen. Die wichtigste ist das Live-Geschäft. Dort lässt sich wirklich viel Geld verdienen. Da können sich die Künstlerinnen und Künstler – unterstützt von einem guten Management – auch selbst vermarkten, und dafür brauchen sie nicht unbedingt die Plattenlabels oder die Musikverlage.

Um im Live-Business erfolgreich mitspielen zu können, reicht es heutzutage, ein gutes Booking und einen Namen am Markt zu haben. Zudem gibt es vielfältige Möglichkeiten, beim Merchandising oder beim Branding Kooperationspartner zu finden, etwa mit bekannten Markenfirmen. So lassen sich zusätzliche Geldquellen anzapfen.

Ich würde das als eine Chance der Digitalisierung betrachten, dass man sich als Künstler und Künstlerin durchaus am Markt selbst aufbauen und vermarkten kann. Je stärker die eigene Position ist, desto mehr ist man in der Lage, mit etablierten Playern über einzelnen Dienste zu verhandeln, etwa nur einen Vertriebsvertrag für einen internationalen Release – und eben keine 360-Grad-Verträge annehmen zu müssen. Oder im Fall eines 360-Grad-Vertrags zumindest einen hohen Vorschuss auszuhandeln.

Die Verhandlungsposition für etablierte Künstler hat sich eigentlich verbessert. Aber für viele, viele andere ist die Marktsituation härter geworden. Es bewegen sich sehr viel mehr Künstler und Künstlerinnen am Markt als je zuvor, weil die Markteintrittsbarriere so niedrig geworden ist. Aus dieser großen Masse muss man erst einmal hervorstechen.

iRights.info: Wie sieht es bei den Musikstreamingdiensten aus? Sie sind durch die Flatrates für die Verbraucher günstig, scheinen aber Musikern wenig einzubringen.

Peter Tschmuck: Musikerinnen und Musiker könnten da mehr herausholen, denke ich. Der erste wichtige Schritt dafür ist, dass sie nicht in den alten Plattenverträgen hängen bleiben, denn in denen wird Streaming genauso abgerechnet wie das physische Produkt, also die CD: Unterm Strich sind das vielleicht fünf oder sechs Prozent der Einnahmen. Angesichts der Mikrocent-Beträge, die bei Streamingdiensten pro Abruf fließen, haben die Künstlerinnen und Künstler gar nichts davon, nicht einmal dann, wenn ihre Musik millionenfach gestreamt wird. Bei neueren Verträgen werden im Digitalgeschäft – also auch für Downloads – von den Labels durchaus 50 Prozent ausgeschüttet.

Noch besser ist es, wenn die Künstlerinnen und Künstler das Digitalgeschäft selbst in die Hand nehmen. Sie können direkt zu Content-Aggregatoren gehen. Das sind Unternehmen, die die Musikdateien weltweit in Downloadshops und Streamingservices einstellen. Diese bieten unterschiedliche Erlösmodelle, mit prozentualer Beteiligung oder mit festgesetzten Zahlungen. Dazu gehören beispielsweise „Zebralution“ in Deutschland, „Rebeat“ in Österreich, „The Orchard“ in den USA oder „Believe Digital“ in Frankreich und Deutschland.

Diesen Anbietern muss man keine Rechte übertragen, sondern man behält sie selbst. Man bekommt von ihnen detaillierte Reports darüber, wie oft die Musik heruntergeladen und wie viel Umsatz damit gemacht wurde. Dort fließt auch beim Streaming ein Großteil der Einnahmen an die Künstlerinnen und Künstler. Man muss sich mit diesen Systemen ein bisschen auskennen, kann dann aber wesentlich mehr herausholen als bei Verträgen mit Plattenlabels.

iRights.info: Heißt das, man sollte die fortwährenden Abgesänge auf die Musikbranche nicht überbewerten?

Peter Tschmuck: Es gab in der Musikbranche durch die Digitalisierung einen gewaltigen Strukturumbruch. Das Geschäft mit Musikaufnahmen ist enorm unter Druck geraten; es ist heutzutage nur noch ein Nebengeschäft des Live-Business. Zählt man die Einnahmen daraus mit, kann man sehen, dass der gesamte Musikmarkt – über einen längeren Zeitraum betrachtet – eigentlich gewachsen ist. Es hat einerseits eine Umschichtung der Einnahmequellen gegeben und andererseits sind neue Möglichkeiten entstanden. Wer versteht, das zu nutzen, der wird davon profitieren.

iRights.info: Welche Rolle kann dann Streaming für Musiker spielen?

Peter Tschmuck: Man muss das Streaming so wie Radio betrachten: als Promotion-Werkzeug, nicht als Einnahmequelle. Es hat sich in der Vergangenheit kein Künstler großartig darum gekümmert, wie oft er im Radio gespielt wird. Gewiss war es toll, wenn man einen Hit in den Radios hatte und von den Verwertungsgesellschaften Tantiemen ausbezahlt bekam, aber sie waren nie im Fokus. Es ging bei Radio immer um die Promotion für den Tonträgerverkauf.

Bei den Rezipienten jedoch geht der Trend unaufhaltsam zum Streaming. Für mich ist Streaming schlicht das Radio des 21. Jahrhunderts. Wenn Künstlerinnen und Künstler da nicht dabei sein wollen, schaden sie sich selbst. Bei Streaming geht es genau so wenig um die Einnahmen wie beim Radio, aber man muss diese Plattformen dennoch für sich zu nutzen wissen.

Aktivitäten von Stars wie die von Taylor Swift, die ihr neues Album explizit nicht auf Spotify zur Verfügung stellt, dafür aber bei iTunes und sogar auf Youtube, sind reines Marketing. Für Taylor Swift sind die Einnahmen aus dem Streaming bestenfalls zusätzliches Taschengeld. Das große Geld macht sie mit dem Konzertgeschäft – das ist ein Millionen-Business. Mit der Empörung über Streaming wird viel heiße Luft produziert, aber sie bringt sich damit als Künstlerin natürlich ins Gespräch.

iRights.info: Wer wird Ihrer Meinung nach in den nächsten Jahren die stärkste Position in der Musikwirtschaft haben?

Peter Tschmuck: Ich glaube, die stärkste Position haben mittlerweile die Musikkonsumenten und -konsumentinnen, weil sie bestimmen, wohin sich der Markt bewegen wird. Von ihrem Verhalten wird sehr viel abhängen. Sie profitieren am meisten von der Digitalisierung, denn es war noch nie so viel Musik verfügbar wie jetzt.

Aber es gibt auch neue Akteure, die immer wichtiger werden, gerade weil ihre Geschäftsmodelle nicht auf dem Verkauf von Musik beruhen. Unternehmen wie Amazon, Google und vor allem Apple mit dem neuen Dienst Apple Music können einiges verändern. Einem Akteur wie Apple geht es darum, Endgeräte zu verkaufen. Seine Shops für Musik, Filme und anderen Content unterstützen lediglich dieses Ziel. Unternehmen wie Apple, Google und Amazon bieten ein Ökosystem und könnten zukünftig eine wesentlich größere Rolle in der Musikwirtschaft spielen, als das bisher schon der Fall ist.

Es ist denkbar, dass Musik-Majors von solchen Akteuren aufgekauft werden. Dazu muss man sich eines vor Augen halten: Apples Gesamtumsatz ist zwölf Mal größer als der Gesamtumsatz der phonographischen Industrie weltweit. Es wäre für sie keine große Sache etwa die Universal Music Group zu übernehmen. Die spannende Frage ist, warum haben sie es bislang noch nicht getan? Ich denke, weil sie glauben, dass sich dieses Geschäftsmodell noch weiter verändern muss.

iRights.info: Oder weil sie aus Erfahrung die Finger von Geschäften lassen, die sie nicht gut genug verstehen?

Peter Tschmuck: Kann sein, aber wichtiger scheint mir die Frage, weshalb sie weiter so viel Geld für Musiklizenzen ausgeben sollen. iTunes läuft mit Verlust, und Apple Music wird auch Verluste erzeugen, einfach weil die Lizenzzahlungen – im Verhältnis zu den durchsetzbaren Endverbraucherpreisen – so hoch sind. Daher könnte der Kauf eines Labels Sinn machen, weil dann die Lizenzeinnahmen im Konzern bleiben. Es wird spannend zu beobachten, in welche Richtung Apple und die anderen großen Internet-Unternehmen gehen.


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