„Musik interessiert mich eigentlich nur noch Live auf der Bühne“, sagt er, als wir uns zuprosten. Mein Ex-Kollege, den ich nach Jahren zufällig wieder treffe – bei einem Soul-Konzert – und mit dem ich mich schon damals immer gut über gute Musik unterhalten konnte. „Platten oder CD‘s“, sagt er, „kaufe ich schon lange nicht mehr, ich habe praktisch keine konservierte Musik mehr zu Hause, höre Radio oder stöbere im Internet herum.“ In seinen Augen sehe ich buddhistische Genugtuung plätschern.
„Wie, jetzt, keine Sammlung, keine Festplatte, keinen iPod?“, fiel ich aus allen meinen geliebten Musik-Wolken gleichzeitig. Songs, Sounds und Grooves, sie umgeben mich beständig, sie spiegeln zuverlässig meine Stimmungen oder rufen sie gewollt hervor, sie überraschen mich sogar, und sie werden mir trotz ihres unablässigen Wachstums nie zu viel (nun ja, bei Umzügen, angesichts so einiger Vinyl-gefüllter Kartons, drängt sich die Erkenntnis des Loslassens beharrlich auf; aber ich bin lange nicht mehr umgezogen ;-) Zu Hause, das bin ich doch erst dann und nur dort, wo „meine“ Musik ist, wo ich Programmchef „meiner Welle“ sein kann, weil Radios zu viel schlechte und nur die gute Musik zur Trägerfrequenz für mein Leben …
„Ja, ja, ja, ist schon gut“, grinst er, „aber ich will Musik eben am liebsten direkt erleben, das gibt mir viel mehr. Die Musiker spielen sehen, die Band-Chemie spüren, die Atmosphäre im Publikum fühlen, mich von den Vibrations durchfliessen lassen …“. Wir nicken uns zu, denn genau das liebe ich auch am meisten an Musik, respektive an Funk, Soul, Rock, Blues, Jazz und Pop (in dieser Reihenfolge). Live and Direct, yeah! Am besten in kleinen Clubs. Überteuerte Arenen-Shows mit ablenkenden Leinwänden, zu viel Pomp und zu wenig „livehaftigem“ Musizieren können uns gestohlen bleiben – von seltenen Ausnahmen für Legenden und Idole mal abgesehen. Genau. Und was er an Ausgaben für Musik-Konserven spare, stecke er eben in Eintrittskarten, mitunter ist er mehrmals wöchentlich bei Konzerten. Musik ist, wenn man dabei ist.
Oft gehe er auf Verdacht los. „Ich habe irgendwo was gelesen, per Mail einen Tipp bekommen, im Internet ‘nen Kurzbericht über den Auftritt einer Band in einer anderen Stadt entdeckt – dann ziehe ich auch spontan los, lasse mich überraschen, einfangen, mitnehmen. So stosse ich auch immer wieder auf Neues, bleibe nicht auf einen Stil oder ein Genre oder eine Epoche festgelegt.“ Nun ja, wende ich ein, gleich spielt immerhin eine Band, die schon mehrere Jahrzehnte dabei ist. Na, und? Wichtig sei doch, dass sie richtig gut(e) Musik mache und weniger auf Charts aus sei als vielmehr auf Spaß: am Live-Kick, am „Musizieren“, am Moment der Entstehung, am gemeinsamen Erleben. Am Geist der Echtzeit. Da hat er verdammt recht.
Musik aufzunehmen, um sie zu verkaufen, das habe doch kaum noch einen Wert, das bringe praktisch nichts mehr, sagte Prince vor einigen Wochen bei einer Pressekonferenz in Paris (sinngemäß wiedergegeben, gesehen in einem Bericht auf arte). Auch von der Musikverbreitung via Radio und YouTube hält er nichts (mehr): „Ich finde dieses System einfach nicht sehr einladend. Deshalb halten wir uns an Konzerte und machen auf diesem Weg neue Musik“, gab er zu Protokoll und stellte sogleich eine lang anhaltende Konzertserie in Paris in Aussicht. Und das darf man glauben: 2007 spielte Prince wochenlang in Las Vegas, in 2008 füllte er im Verlauf von etwa zwei Monaten ganze 21 mal die riesige Londoner 02-Arena. Jeder der rund 300.000 Besucher in London erhielt dabei das seinerzeit aktuelle Album „Planet Earth“ als CD ausgehändigt, welche zudem einmal der grössten englischen Sonntagszeitung beilag.
Auch 2009 zeigte Prince sich am Musik-Konserven-Verkauf eher desinteressiert, seine insgesamt drei Alben liessen sich nur von seiner kostenpflichtigen Internetseite herunterladen. Promotion oder Vertriebsmarketing wendet der Label-unabhängige Künstler dafür kaum noch auf. Seine Website ist optisch zwar attraktiv, tritt aber in Sachen Musikprodukten seit einem Jahr auf der Stelle. Stattdessen gibt es dort teure Kunstposter, teures Parfum und sauteuren Schmuck zu erstehen, limitiert und signiert, kaum kopierbar. Dazu sollte man wissen, dass Prince sich von Tauschbörsen und Internetplattformen permanent bestohlen und betrogen sah, woraufhin er sich vor rund drei Jahren zuerst mit Fan-Clubs in Rechtsstreits überwarf, mittlerweile aber seinem gesamten Publikum zu misstrauen scheint. „Eye love U but eye can’t trust U anymore“, heisst seine als Liebessong verpackte Botschaft.
Naja, einem exaltierten Genie wie ihm muss ich ja am Ende ebenso wenig trauen, aber seine Musik darf mich ja weiter begeistern, oder? Und dass er auch mit (über) 50 ein umwerfender Live-Performer ist, davon habe ich mich seinerzeit in London überzeugt, bei einem der 21 Arenen-Konzerte – und es war Musik von ganz grosser Klasse, ohne Leinwände, dafür mit Solo-Akustik-Set und jazzy jamming sessions. Zudem hing er in der selben Nacht noch ein komplettes „Club“-Konzert drang, das praktisch alles einlöste, ja, sogar übertraf, was ich von Live erwarte. Es war nicht nur die weite Reise wert.
Ob ich allerdings bereit bin, (Prince-)Vinyl-Alben oder -CD’s zu verkaufen oder gar nicht erst zu kaufen, um mir (Prince-)Live-Konzerte (in Paris) leisten zu können? „Naja, denk mal drüber nach“, sagt mein Freund, der Echtzeitgeist – „und gib‘ mir rechtzeitig Bescheid, ich bin dabei!“
Verdammte Falle.