Nachrichten, Informationen und Kommunikation zählen heutzutage zur Grundversorgung, heisst es immer öfter, so wie Wasser und Strom. Würden demnach Texte, Bilder und Töne in Netzwerken primär als Datenströme betrachtet sowie nach Mengen gemessen, berechnet und vergütet, erhielte die „Inhalte“-Versorgungs-Wirtschaft eine neue Grundlage.
1992 entwickelten die Berliner Medienkünster Joachim Sauter und Dirk Lüsebrink die im Wortsinne sehenswerte Installation „Zerseher“. Die konzeptionell und technisch brillante, zu recht preisgekrönte Arbeit (siehe Video) basiert auf der Idee, dass der Betrachter – hier: eines Gemäldes – allein durch seine Blicke das Kunstwerk verändert oder, eben, „zersieht“.
Schon als Kind habe ich öfter darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn sich die Buchstaben einer Zeitung oder eines Buches, mit dem Lesen „verbrauchen“ würden. Wenn sie, wie mit Zaubertinte geschrieben, nach dem ersten oder auch dritten Lesen einfach verschwinden würden. Und genau so verstand ich den „Zerseher“, als man ihn mir 1992 das erste mal vorführte: Das „Verbrauchen“ des Gemäldes durch die Blicke als interaktive Manipulation oder Zerstörung. Ganz so, als würde man die Farben eines Bildes essen oder, die Buchstaben eines Textes wegschlürfen wie eine Suppe.
Womöglich wollten Sauter/Lüsebrink mit ihrer Vision eines zerstörerischen Kunstgebrauchs, wie sie ihr „Zerseher“ zeigt, auch an die „Freiheit“ des wiederholten Kunstgenusses gemahnen. Mich zumindest brachte die Installation zur Debatte um Online-Bezahlmodelle für Musik, Journalismus, Videos, Bücher – Inhalte. Aus einer heutigen, internet-ökonomischen Perspektive betrachtet könnte die Metapher der „Zersehung“ zu einem, vielleicht sogar tragbaren Modell für einen Einnahmen-Vergütungen-Kreislauf führen. Einem von Wasser, Strom, Benzin und Gas bekannten Kreislauf, der praktisch und konsequent auf der Vergütung von „Verbrauch“ an Datenmengen basiert.
„On-line“ meint, wörtlich übersetzt, „am Kabel“. Statt für „verkabelt“ steht der Begriff „online“ heute aber für jegliche Kommunikations-Verbindungen, etwa Telefonnetze, Kabelnetze, Datennetze ebenso wie Mobilfunknetze, Nah- und Haus-Funknetze (WLAN). Sie alle basieren, rein technisch gesehen, auf dem Verbrauchsprinzip, eben wie Wasser, Gas und Strom: Die Nutzung von definierten Leitungen beziehungsweise Funk-„Kanälen“ über einen Zeitraum x. Nur dass in den Kommunikationsnetzen Daten fliessen, heute fast ausschliesslich digitalisiert, als Nullen und Einsen. Gut, genauer und vereinfacht gesagt sind es „elektrische Kleinstimpulse“, wobei sich diese nie schneller als in Lichtgeschwindigkeit reisen – und auch nicht zu verkleinern sind.
Zwar mögen Kompressionstechnologien – die es für Wasser, Strom und Gas nicht gibt – aus den 20 Gigabyte eines A4-Fotos vielleicht 1 Gigabyte oder noch weniger machen. Die Menge „1 Gigabyte“ als solche meint immer eine entsprechende Menge an Nullen und Einsen (sprich: Signalen). Die Berechnungsgrundlage „Datenmenge“ ist also im Grunde physikalisch bedingt, und sie existiert auch heute noch bei allen (technischen) Unternehmen, die am Internetgeschäft beteiligt sind, von den Netzbetreibern über die „Service-Provider“ bis hin zu peripheren Netzzugang-Händlern.
Das heisst, es gibt – bezogen auf die angesprochenen Netze – eine einheitliche „Währung“ für jede Art von Kommunikation: Bits, Bytes, Kilo-, Mega- und Gigabytes, die hin und her fliessen. Besser noch: die Fliessmengen lassen sich exakt messen. Wer sich jetzt einen Megabytezähler vorstellt, der – analog zu Stromzähler und Wasseruhr – fest und verplombt in die häusliche/mobile Internetleitung montiert ist und die jeweiligen Verbrauchsstände an die (virtuellen) Ableser übermittelt, dem mag dieses Bild helfen. Gerätetechnisch würde der Byte-o-meter vermutlich unauffälliger daherkommen, aber das Prinzip ist dasselbe.
Es geht mir aber nicht darum, in Cent-pro-Kilobyte-Beträgen für den rundum vernetzten Verbraucher zu denken. Und dass diese Beträge sich mitunter zu mehrstelligen Euro-Beträgen auftürmen, etwa weil da ein paar Spielfilm-Downloads dabei waren. Sollte es zu derartiger Zählung und Berechnung von verbrauchten Bytes kommen, sind Milli- oder Mikrocent-Beträge wahrscheinlicher. Doch darauf will ich nicht primär hinaus, denn der „nackte“ Megabyte-Verbrauch wird und soll den Endpreis nicht allein bestimmen.
Beim Messen des „Verbrauchs“ geht es mir vielmehr um die Rückkopplung zu jenen, die überhaupt erst „Daten“ erzeugen, also die audio-visuellen und textuellen Inhalte liefern. Aus diesen Inhalten entstehen Datenströme, die zu und zwischen Verwertern, Zwischenhändlern und Endverbraucher-Händlern stattfinden. All diese Bewegungen von Daten, all dieser Transport von „Inhalten“ – in welchem Zustand der Bearbeitung oder Veredlung diese Inhalte sich auch immer befinden. Jede physikalisch messbare Datenbewegung hat eine Relevanz, was die Nutzung, aber auch was die „Abnutzung“ betrifft.
Gewiss, der „Gebrauch“ eines Inhalts kann sehr unterschiedlich intendiert sein, ein Redakteur formt einen Text aktiv um, ein Leser speist die Botschaften des Textes „nur“ in sein Gedankennetzwerk ein. Und doch sind alle im Netz irgendwie „Nutzer“ oder „Abnutzer“ und damit „Zerseher“. Jedenfalls, wenn Daten durch Leitungen und Kanäle fliessen. Diese Nutzung gilt es, Byte für Byte, zu messen, zu berechnen, zu vergüten und zurückzuführen. An Urheber, Produzenten, Verlage, Veredler, Verkäufer, kurz an alle, die Content „einspeisen“ und deren „Inhalte“ bewegt, geladen, genutzt werden.
Ja, ich weiss, schöne Theorie, netter Versuch. Abstrakt vorstellbar mag das durchaus sein, und als Paradigmenwechsel für die „Content- und Communication-Economy“ ist das schnell mal proklamiert. Wie aber soll das konkret aussehen? Das wirft zahlreiche Fragen auf, von denen ich ein paar schon mal selbst erörtere:
Wie tief muss das ansetzen?
Vermutlich sehr tief. Es gibt ja für den Energie-Sektor auch gesetzliche Vertriebs-, Markt- und Berechnungsgrundlagen, dazu Aufsichtsbehörden, Infrastrukturen.
Brächte das nicht einen Verwaltungskoloss für Abrechnung, Ausschüttung und Aufsicht mit sich?
Verwaltung ja, Koloss, vielleicht. Oder auch nicht – ist ja IT ;-)
Gibt es dann keine Flatrates, keine „Alben“ und andere Content-„Pakete“ mehr?
Keineswegs. Wasser kommt aus der Leitung, aber eben auch in Flaschen, dabei sehr „variabel“ ausgepreist. Marke, Design, Verpackung, etwas „Anfassbares“, all das bleibt ein hoher (Zusatz-)Wert. Die Datenmengen-Berechnung soll „nur“ eine verlässliche Basis für den Content-Waren-„Umschlag“ sein.
Sollen lange Texte, lange Filme, grosse Bilder tatsächlich mehr Wert sein, nur weil die Datenmenge grösser ist?
Länge und Grösse relativieren sich schnell, weil doch die Häufigkeit der in Netzen fliessenden Nutzung entscheidender Multiplikator ist.
Soll etwa jeder Eintrag in einem Internet-Tagebuch, jede Wettermeldung mess- und vergütungswürdiger Content sein?
Im Prinzip schon, warum auch nicht? Doch „kommerziell“ bleibt und ist auch im verbrauchsgesteuerten Modell etwas ganz anderes.
Stellt dieses Modell dann Verwertungs- und Gebühren-Prinzipien wie GEMA, VG WORT/BILD und GEZ in Frage?
Nicht unbedingt. Die Datenmengen-Berechnung soll eine vorhandene technische Rahmenbedingung quasi manifestieren als „Ummünzung“ in Basis-Vergütungen. Was darüber passiert, müssen die an Inhalten und Kommunikation Beteiligten untereinander und mit dem Gesetzgeber womöglich neu aushandeln – ebenso wie die mit den Märkten.
Und das Urheberrecht?
Besteht von seinen Prinzipien her gewiss auch in einem verbrauchsgesteuerten Modell, wenngleich mit neuen Rahmenbedingungen.