Die Medienverbände schieben der Internet-Piraterie die Schuld an der Medienkrise zu – und die Gewerkschaft Verdi bemüht sich kaum erfolgreich um Distanz
Dieter Gorny ereiferte sich. Es sei doch jedem klar, so der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes Musikindustrie (BVMI), dass man etwa in einer Buchhandlung nicht zehn Prozent der ausliegenden Ware kostenlos mitnehmen dürfe. Weshalb also sollten Verbraucher im Internet Musik, Filme und eben auch Bücher in illegalen Tauschbörsen oder „Ladestationen“ kostenlos abgreifen dürfen? Eine rhetorische Frage, die der Chef-Lobbyist der deutschen Musikwirtschaft da gestern in Berlin auf einer Pressekonferenz stellte.
Gewiss, die heutigen Medienkonsumenten seien ebenso durch pauschale Kultur-Beiträge sozialisiert, neudeutsch „Flatrates“ – und dies nicht nur bei Telefon- und Internet-Anschlüssen. Auch an die den Verwertungsgesellschaften zukommenden Kleinstbeträge oder an die Gebühren für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten sei man gewöhnt. Schon, aber diese Art der „Kulturvereinnahmung“ so Gorny, sei schon länger nicht mehr zeitgemäß und sollte abgeschafft werden. Einem so radikalen Angriff auf das öffentliche-rechtliche Medienwesen wollte selbst der neben ihm sitzende Jürgen Doetz nicht uneingeschränkt zustimmen, obwohl der Vorsitzende des Verbands der privaten Rundfunk- und Telemedien-Anbieter (VPRT) sonst nicht gerade zimperlich gegenüber ARD und ZDF ist.
Die Pressekonferenz fand zum internationalen „Tag des geistigen Eigentums“ statt. Neben VPRT und BVMI saßen noch Vertreter der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO), des Börsenvereins des deutschen Buchhandels und vom Verband Deutscher Drehbuchautoren (VDD) gemeinsam mit und in den Räumen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi auf dem Podium – und lieferten eine am Ende durchaus fragwürdige Lobbyismus-Offensive ab, bestehend aus Verbraucher-Schelte und Anrufung des Gesetzgebers.
1,2 Millionen Arbeitslose durch Piraten
Ausgangspunkt bildete die vom französischen Beratungsunternehmen „Tera Consultants“ vorgestellte Studie über den „Aufbau einer digitalen Wirtschaft“ (hier in englisch als Zusammenfassung oder komplett herunterzuladen). Die Studie rechnet zum einen den Anteil der so genannten „Kreativwirtschaft“ an der gesamten Wertschöpfung hoch (im Jahr 2008): Etwa 6,9 Prozent in der Europäischen Union, und 6,5 Prozent in Deutschland. Zum anderen kumuliert die Tera-Studie die wirtschaftlichen Auswirkungen, die sich durch Kreativleistungen betreffende Piraterie bis zum Jahr 2015 ergeben würden. Aus den ermittelten, knapp 10 Milliarden Euro Umsatzverlusten in 2008, würden in fünf Jahren rund 32 bis 56 Milliarden Euro, während dem für 2008 ermittelten, „auf Piraterie zurückzuführenden Beschäftigungsabbau“ von rund 186.600 Stellen in fünf Jahren bereits ein Verlust von 611.300 bis 1,2 Millionen Jobs gegenüberstehen würde.
Solche Zahlen sollen und können erschrecken, Politiker ebenso wie die Bevölkerung. Gleichwohl galt bei der Pressekonferenz die allererste Frage von Journalisten der Studie und ihrer Methodik. Denn die von Tera angewendeten Berechnungsmethoden hinsichtlich etwaiger Piraterieschäden – etwa die Gleichsetzung jedes illegalen Downloads mit der Erlössumme eines realen Kaufs – scheint so nicht haltbar. Das räumte jüngst ein diesbezüglicher Bericht der US-Regierung ein und erklärte Prognosen, die sich auf derlei Berechnungen stützen, für „jeglicher Grundlage entbehrend “ (siehe Artikel auf „Zeit online“ vom 15.4.2010). Zwar distanzierte sich der Verdi-Vertreter Heinrich Bleicher-Nagelsmann schon während seines Statements von der Tera-Studie und regte weitere Untersuchungen zum Verbraucherverhalten an. Doch das war kein Grund für die anderen, nicht mit den von Tera entworfenen Szenarien zu agitieren.
Bei dritten Mal knallt’s
Die Medienverbands-Vertreter schwenkten die Argumentationskeule „Arbeitsplatzverluste“ nur noch dichter vor ihrer Hauptlichtquelle „Kreativleistungen“, um die Schatten „Gefährdung kreativer Biotope“ und „Verfall der kulturellen Vielfalt“ noch bedrohlicher wirken zu lassen. Als Gegenmaßnahme verlangten die Kreativwirtschaftler vom Gesetzgeber mehr Gegenwehr. Konkret forderte Alexander Skipis für den Börsenverein, dass die Regierung ein drei-phasiges Verfahren gesetzlich stärke, nach welchem erkannte Datenpiraten erst zwei mal verwarnt und dann strafrechtlich verfolgt würden. Dies sei technisch erstens schon jetzt möglich, so Skipis, und würde auch zweitens keine Datenschutz-Regularien verfolgen, was der Bundesdatenschutzbeauftragte bereits bestätigt haben soll.
Dieser nur mündlich überlieferten Absolution gilt es nachzugehen. Denn gegenüber den gewünschten oder geforderten Sanktionen für Piraterie ist erfahrungsgemäß – etwa hinsichtlich der Vorratsdatenspeicherung – gesunde Skepsis angebracht. Diese machte Bleicher-Nagelsmann für Verdi deutlich – gestärkt durch ein Neun-Punkte-Papier der Deutschen Journalisten Union Berlin-Brandenburg: Der Schutz von geistigem Eigentum und Urhebern dürfe nicht mit Selbstjustiz, Überwachung, Sperrungen oder Verletzungen des Datenschutzes einhergehen. Hätten diese verbraucherorientierten Forderungen im Mittelpunkt der Pressekonferenz gestanden, hätte sich Verdi wohl nicht fragen lassen müssen, weshalb sich die Gewerkschaft mit den unternehmerischen Medienverbänden auf ein Podium setzte, es aber versäumte, auch Vertreter öffentlich-rechtlicher Einrichtungen sowie von Verbraucherverbänden mit an den Tisch zu rufen.