Mittlerweile sitze ich richtig gerne in diesen ganz neuen Ruhewagen. Gedämpfte Innengeräusche, keine Telefonierer, keine Durchsagen, selbst der Bistro-Steward schiebt sein Wägelchen lautlos durch die Reihen. Und ich sehe den Menschen gerne dabei zu, wie sie sich allein mit Händen, Gebärden und Mimik unterhalten – sogar per Mobiltelefon und Tablet.
An sich wollte die Bahn seinerzeit ja „nur“ ein paar Imagepunkte in Sachen Barrierefreiheit sammeln, als sie diesen Service für Gehörlose einführte. Durchsagen des Zugchefs oder der „Gang-Funk“ der Mitfahrenden (die aktuellere Infos aus dem Netz holen als die Uniformierten) können an Gehörlosen ja vorbeigehen. Also richtete die Bahn einst spezielle Plätze und Abteile für Gehörlose und Schwerhörige ein. Dort installierte sie zunächst optische Signale, kurz darauf „Durchsage-Bildschirme“, um auf das Erreichen des nächsten Bahnhofs hinzuweisen sowie über relevante Anschlussmöglichkeiten oder Verspätungen zu informieren. Mit dem Einbau eines Vibrationsmoduls in die Sitze – auch Gehörlose schlafen oder dösen mal – war das Konzept funktionabel. Und es kam gut an – doch bei weitem nicht nur in der eigentlichen Zielgruppe.
Schnell sprach sich herum, dass es in diesen Abteilen nicht nur ruhig war, sondern still. Die vor Jahren mal eingeführten Ruhezonen, also Wagenbereiche mit Telefonierverbot, waren schon lange keine mehr, gar nicht mal wegen rücksichtsloser oder zwanghafter Dauerquatscher. Vielmehr pochten in den stets überfüllten Zügen immer mehr Pendler und Vielfahrer auf ihr angebliches Recht, auch im Zug weiterarbeiten zu dürfen, und ihre Arbeit sei nun mal, zu telefonieren. Es kam zu Streit, es gab Prozesse und die Bahn setzte – nach endlosen Diskussionen mit den Netzgemeinden – auf die Selbstregulierungsmechanismen der Reisenden. Naja, das war’s dann, die kollektive Einigung auf Ruhe klappte in etwa so häufig wie ein perfekter Anschluss in Hannover: selten. Stattdessen quatschten die Leute drauf los, und nicht mehr nur zum Telefonieren: sie redeten ja sogar mit den Geräten selbst: „Wie wird das Wetter morgen?“, „Ist mein Bruder auch schon da?“, „Was steht heute an?“ und so weiter, schon laut vor sich hin. In den Wagen herrschte ein Lärmpegel, der das Umweltbundesamt in etwa so sehr beschäftigte, wie zuletzt das Nachtflugverbot.
Die Idee, den Telefonierern spezielle „Zellen“ anzubieten, wie einst in den allerersten ICE’s, fiel bei allen Befragungen als narzismusfeindliche „Isolationsstrafe“ durch. Also kooperierten die Waggondesigner mit Führungskräfte-Beratern – im Branchenjargon: „Alphatier-Pfleger“ – und entwarfen spezielle Kommunikationswagen: Ausgestattet mit Netzanschlüssen, Arbeitstischen und einer gummierten 15 Meter-Bahn, weil viele beim Telefonieren so gerne hin- und hertigern. Gutes Konzept, ausbaufähig auf einen kompletten Zug, etwa in den „Sprintern“ nach Frankfurt – doch es liegt in irgendeiner Schublade.
Seitdem versuchte die Bahn das Lärmproblem in ihren Zügen auszusitzen. Doch dann kamen die barrierefreien Abteile: mit fasznierender Eigendynamik gerieten sie zu Fluchtpunkten für Esoteriker, lösten dann den Kult um das „Abenteuer Schweigen“ aus. Schliesslich die kompletten Ruhe-Waggons, weil sich die Nachfragen überschlugen. Mit der cleveren Kampagne „Die Ruhe Wagen“ surfte die Bahn beide Social-Zeitgeist-Media-Wellen ab – bis das Sozialgeschnatter dann konsequenterweise auch in den Netzen verstummte; naja, zumindest für ein paar Tage, mit tausenden Tweets und Postings, die nur Striche, „ssssssssssss“ oder „ffffffffffffff“ enthielten. (Als die ersten irgendwelche Schnarchlaute twitterten, war der Spuk wieder vorbei).
Wichtiger war die Erkennung der Gebärdensprache durch die Mobilgeräte: Mittels der eingebauten Kamera liessen sich nun Tables und Smartfons mit Gesten, Mimik und Gebärden steuern. Plötzlich war es „cool“, Gebärdensprache zu beherrschen. Die notorischen „Frühentdecker“ (early adaptors) erklärten „Fa-Fi-Ge‘s“ – „Face-and-Finger-Gestures“ – als definitiv „hip“. Bald waren die Apps ausgereift. Apple präsentierte „Visual Siri“, kurz „Visiri“: das androgyne Avatar, das Gebärdensprache beherrscht; typisch dabei, dass sich Visiri bis heute „expliziten“ Gesten wie dem Stinkefinger oder dem Kreis aus Daumen und Zeigefinger verweigert und stets zornig zurückblafft: „Ich werde ihre Eingabe nicht verstehen!“
Der Trend zur Gebärdensprache als „Visual Esperanto“ digitaler Generationen kam für die Bahn wie gerufen, äh, wie herbeigewunken. Sie reagierte: In den Großraum-Ruhe-Wagen montierte sie Dockingstationen zum ein-clippen von Smartfons und Tablets in die Rückenlehnen; und die Sitze selbst bezog sie mit „Greenscreen“-Stoff: Damit erkennen die Apps die Gebärden noch besser, zudem lässt sich ein virtueller Hintergrund einfügen. So machen lautlose Videochats selbst den ABC-Schützen unter den Gebärdensprachlern Spaß. Das Erlernen von Fingergesten und Gesichtsaudrücken geriet zum Mainstream. Ein Hersteller gab vergnügliche Schulungsvideos heraus mit Mentoren, die aussehen wie Harpo Marx und Jerry Lewis, Jim Carey und Louis de Funes. Und die Bahn schickte ihre Zugbetreuer zu Gebärdenseminaren bei Piet Klocke.
Jetzt besteht ein Fernzug der Bahn zur Hälfte aus RuheWagen™, in denen die Reisenden nur gestikulieren. Sie unterhalten sich in Gebärdensprache, um Praxis zu bekommen, weil es Freude macht, weil sie es können (wollen). Selbst die Umbuchung zweier getrennter Fahrkarten auf eine neue Route, mit dreimal umsteigen und zwei verschiedenen Bahncards, lässt sich bei einem zuvorkommend gebärdenden Zugschaffner lautlos erledigen. Naja, zickt mal wieder das mobile Fahrkartenterminal, glüht so mancher Zugbetreuer zum Nerven-Bahner hoch, der zudem an der lautlosen Verzweiflung verzweifelt. Bei heftigeren Streits ist es dann gut, Gehörlose in der Nähe zu finden: als „native Gesture-Speaker“ verstehen sie sich immer noch am besten auf Beruhigungs-Gesten und lautloses Schlichten. Das sehe ich besonders gerne.