Als Bettina Wulff sich entschloss, auch den Internetkonzern Google zu verklagen, um die Weiterverbreitung von Gerüchten über ihre Person zu verbieten, unterstellten ihr viele, sie hätte primär ihr Buch ins Gerede bringen wollen. Am Ende warf die bei Google-Suchanfragen auftretende Verknüpfung ihres Namens mit bestimmten Begriffen ein paar interessante Fragen auf. Fragen zu eben jenem netzöffentlichen Gerede und möglichen Folgen für den generellen guten Ruf Einzelner. Liess sich die Wahrnehmung einer (berühmten/bekannten) Person im Internet, also durch die „spezifische“ Netz-Öffentlichkeit, doch bisher mit dem Berater-Begriff Online-Reputation abtun – wichtig nur für jene, die im Netz was gelten wollen. Doch diese Abtrennung der verdrahteten von einer allgemeinen Öffentlichkeit ist seit der Causa Wulff passé.
Mit ihrer Klage will Wulff einen Suchmaschinenbetreiber per Urteil dazu bringen, seinen nach marktwirtschaftlichen Absatzsteigerungs-Kriterien programmierten Algorithmen nun an persönlichen Ehrverletzungs-Kritierien orientierte Instinkte beizubringen. Ob das Erfolg haben wird (oder kann), bleibt abzuwarten. Doch ihr Fall könnte sich als Kulminationspunkt eines kollektiven Erkenntnisprozesses etablieren, der da lautet: Persönlichkeitsverletzungen haben im Internet nicht nur andere Dimensionen – etwa durch Weiterverbreitung und künstliche Überhöhung, Vielfachspeicherung und Unlöschbarkeit – sondern nehmen (nun) gesellschaftsrelevante Ausmaße an. Und je mehr Fälle von Web-Schimpf und Social Media-Schande auftreten, je häufiger es zu ernsthaften Reputations-Verletzungen kommt, die handfeste Haftungs-, und Entschädigungsfragen aufwerfen –Versicherer reagieren bereits – je größer der akkumulierte gesamtgesellschaftliche „Schaden“ ist, den Netz-Pranger, Cybermobbing, Shitstorms, Outings anrichten – vergleichbar mit Verkehrsunfällen und Passivrauchen – desto mehr könnte auch der Staat ein Interesse daran haben, Haftungssysteme nach Vorbild der Kfz-und Krankenversicherungen einzurichten, samt Versicherungspflicht bei speziellen ‘Kommunikationskassen‘.
Anti-Virus-Software ist kommunikationstechnischer Schutz – was aber hilft gegen kommunikationskulturelle „Angriffe“?
Dass die computergestützte Kommunikation Gefahren und Risiken birgt, wissen Nutzer längst. Doch bisher verbanden sich damit Spam und Viren, Phishing und Hacks. Gegen die subversiven Angriffstechniken von Eindringlingen und Aufdringlingen aller Art lassen sich Abwehrtechnologien in Stellung bringen: regelmäßige digitale System-Impfungen und programmierte Brandmauern (Firewalls). Doch ist dieser private Einbruchs- und Diebstahlschutz jedem seine Sache. So wie Hausbesitzern und Wohnungsmietern »die Polizei rät« – zu einem zweitem Türschloß und Fensterverriegelung, Bewegungsmelder und Alarmanlage – so raten den PC-Benutzern die IT-Experten zu Anti-Viren-Software und Daten-Verschlüsselung. Diese kommunikationstechnischen Lektionen nützen den real Wohnenden jedoch rein gar nichts für die kommunikationskulturellen Prüfungen des Netz-Lebens.
Die Kommunikation in den sozialen Netzwerken ist ja eben keine hinter Schloss und Riegel, nicht mal eine hinter vorgehaltener Hand – vielmehr eine offene und freigiebige, mit zum Schalltrichter geformten Händen. Für den Eintritt in die sozialen Netzwerke verlassen wir ja die mehr oder weniger gut geschützten eigenen vier Wände des PCs, um fortan in einer Art Messehalle mit einem ganz persönlichen „Stand“ am großen Sozial-Palaver teilzuhaben, wie hunderttausend andere auch. In diesen Netzwerk-Hallen gibt es zwar auch Spam und Werbung, doch um die vielen künstlichen Bemerke-mich-Düfte der Werbetreibenden in unserer natürlichen Kommunikations-Umgebung geht es hier weniger.
So wie E-Mails erst im falschen Verteiler und dann im falschen Hals landen, können kleine Social Media Bemerkungen zu großen Behauptungen oder gar Unterstellungen ausarten
Es geht vielmehr darum, dass aus dem großen Sozial-Palaver heraus Störungen, ja, Belästigungen erfolgen, die nicht das Ambiente betreffen, sondern mich ganz persönlich. Ein unglücklich formulierter Satz, eine unwissentlich falsche Behauptung, ein aggressiver Unterton – all das kann auch in einer gut gemeinten Netz-Debatte viel schlechtes anrichten: Weil sie öffentlich einsehbar stattfindet, weil das Weiterleiten, Teilen und Vervielfältigen – das Streuen, also – so leicht geht und so schnell geht und kaum mehr zurückzunehmen geht. Im Netz zündelt das Lauffeuer in Lichtgeschwindigkeit, kann die stille Post ganz laut sein – dazu reicht schon der Name im „CC“-Feld der E-Mail, statt im blinden „BCC“. Die Eigen-Dynamik einer kleinen Missverständlichkeit bleibt durch das nahezu unweigerliche „Speichern“ im Digitalen nicht nur erhalten, sie vervielfältigt sich gleich mit.
Sie mögen noch lapidar und reparabel wirken, die kleinen E-Mail-Formulierungs-Fauxpas‘ als Steine im Firmen-internen Kommunikations-Weg, der nicht entlarvte Facebook-Kettenbrief als Malheur im Kreis der „Freunde“, das Weiterleiten des „Guck-mal-wie-peinlich“-Videos aus der Kindheit – ist doch schon so lange her.
Doch so wie E-Mails erst im falschen Verteiler und dann im falschen Hals landen, der sogleich teilöffentlich anschwillt, können auch auf den Social Media Portalen kleine Bemerkungen zu großen Behauptungen oder gar Unterstellungen ausarten. Die kurze Böe einer vielleicht verständlichen persönlichen Empörung kann sich durch Twitter-Verbreitung zu einem gewitterigen Shitstorm aufplustern. Dann kann aus der Beobachtung einer polizeilichen Festnahme ein unbedachter Facebook-Eintrag werden, der schlimmste Lynchjustiz-Instinkte wachruft, wie beim Emdener Vergewaltigungs-Fall. Gewiss, für prozessuale Fehler oder eben auch Instinktlosigkeiten Einzelner kann das Internet nichts. Ebensowenig haben Social Media Dienste die Verbreitung von Gerüchten erst ermöglicht oder gar erfunden.
Nachgiebigkeit macht sich als Tugend immer dann rar, wenn es ums Geschäft, den guten Ruf des Geschäfts geht
Doch die Spezifiken des Internet – langfristige Speicherung der Daten, zudem mehrfach und weit verteilt, internationale Vernetzung, unmittelbares weiterleiten und teilen von Inhalten – bringen neue Herausforderungen für unser aller Kommunikation mit sich. Wenn aus rein persönlicher Neugier Suchanfragen werden, die sich zu vermeintlich gemeinschaftlichen Vermutungen und Unterstellungen summieren, die wiederum persönlichkeitsverletzend wirken, dann ist die Definition der Algorithmen nur eine (ohnehin nicht nur technische) Ebene. In der anderen Ebene fordern die Möglichkeiten der interaktiven, vernetzten und verknüpften Kommunikation unseren bewussten Umgang mit eben diesen Kommunikationsmöglichkeiten heraus: Moral und Ethik, Kommunikationskultur. Im Fall Bettina Wulff ruderte Google bereits etwas zurück. Allerdings macht sich Nachgiebigkeit als Tugend immer dann rar, wenn es ums Geschäft, den guten Ruf des Geschäfts geht, um das Image der Marke, die persönliche Reputation. Selbstjustiz hilft dann ja auch nicht wirklich weiter, wie das Outing des Stalking-Opfers Ariane Friedrich zeigte. Online ist unnachgiebiger,weil unvergänglicher als Offline, daher sind dort auch unnachgiebigere Auseinandersetzungen zu erwarten. Und weil im Netz eben nicht per einstweiliger Verfügung eines Druck- und Verbreitungsverbots „gelöscht“ werden kann, sind womöglich weit mehr Urteile zu „Entschädigungen“ zu erwarten. Und das ruft Haftungs-Experten ins Netz: Versicherungen.
Man könnte sie sich wünschen, aber es wird wohl keine Anti-Verleumdungs-Software und keine Shitstorm-Firewall für‘s persönliche oder unternehmerische Kommunikations-Betriebs-System geben. Denn in der Kommunikationskultur geht es um mehr, sogar um mehr als um „reine“ Semantik, also Sinn und Kontext innerhalb eines Satzes oder eines Absatzes. Der Ruf eines Menschen oder einer Organisation, die Reputation, ist ein sehr komplexes Geflecht mit – behaupte ich jetzt mal –metaphysischen oder auch spirituellen Anteilen. Gerade letztere sind mitunter schwer oder gar nicht zu erklären, und schon gar nicht in Algorithmen zu packen. Gerüchte und Verleumdungen und erst recht Kalkül und Niedertracht sind durch Suchfilter nicht zu erkennen (das hoffe ich zumindest; anderenfalls würde ich das „semantische Web“ nicht mehr als Verheissung sondern als Bedrohung betrachten).
Ist zu erwarten, dass sich die Netzwerk-Kommunikationskultur einfach so verbessert, etwa wie die Zahl der Verkehrsunfälle?
Wo Moral, Ethik und Kultur der Menschen gefragt sind, helfen sanktionierbare Vorschriften und Regeln, gewiss auch Verabredungen, Kodizes und Selbstverpflichtungen. Daher wundert es nicht, dass Unternehmen, Organisationen, Vereine und Institutionen längst das öffentliche Auftreten und den Benimm ihrer Mitwirkenden auf ihrer Agenda haben, etwa in Benimmregeln für das soziale Netzwerl Facebook. Auch Wirtschaftsverbände wie BVDWund Bitkom geben spiegelstrichweise Ratschläge (PDF, Bitkom) .Rechtsanwaltskanzleien leisten Aufklärung zur „Haftung von Arbeitgebern für „private“ Social-Media-Aktivitäten ihrer Mitarbeiter“, und Facebook-Spezialisten versuchen in Whitepapers und im Web die speziellen Haftungs-Bedingungen von Facebook bei Links und Werbeanzeigen sowie die noch spezielleren Haftungsfragen bei Fanbeiträgen auf Facebook-Fan-Seiten zu erklären (das geht vermutlich gar nicht in Kürze sondern nur ausführlich, in neun langen Punkten). Doch auch das nützt nur partiell, die Masse an unwissender, unbedachter und unmoralischer Netzwerk-Kommunikation ist vermutlich ähnlich groß wie im analogen Leben und deswegen gehören Vorfälle der Kategorie Web-Schimpf- und Social Media-Schande eben dazu. Und kommt es zu ersten Präzendenz-Urteilen zur „Haftung eines Fanseitenbetreibers für den Urheberrechtsvertsoß des Nutzers“.
Ist zu erwarten, dass sich die Netzwerk-Kommunikationskultur einfach so verbessert, etwa wie die Zahl der Verkehrsunfälle oder Verkehrsvergehen? Ganz gewiss nicht. Die Versicherungen sind längst gewarnt. Während sie sich in Deutschland noch gegenseitig fragen, ob man sich gegen Abmahnungen im Social Media Marketing versichern? kann, ist in Großbritannien bereits die erste Social Media Versicherung an den Start gegangen (berichtet Future.biz). Für beispielsweise 4,99 Euro monatlich Prämie bietet der Versicherer Allow in folgenden Fällen Hilfe: Werden „Nutzerinformationen missbraucht, Personen an den digitalen Pranger gestellt und Accounts gehackt“ … entfernt der Versicherer „den Namen und die Adresse aus sämtlichen Datenbanken von Marketing- und Newsletterunternehmen, schützt diese Informationen für die Zukunft und berät die Kunden für das weitere vorgehen“. Und beim jüngsten Juristentag forderten Anwälte bezüglich der Haftung von Internetanbietern und -Dienstleistern für die Daten ihrer Nutzer (mal wieder) eine neue Internet-Rechtsprechung.
Womöglich läuft es auf lange Sicht auf eine gesetzliche Versicherungspflicht in Kommunikationskassen hinaus
Das ist natürlich alles schön und gut, aber bei weitem nicht ausreichend. Stichworte: Entschädigungsforderungen, massenhafte Fälle, Alltäglichkeit, Strassenverkehr, Gesundheitssystem, Kommunikationsbewusstsein. Es ist ja das eine, einen Reputations-Schaden durch Versicherer kompensieren zu lassen. Doch das andere ist, durch eigenes Verhalten weder andere ungewollt zu schädigen, noch sich selbst. Also setzen die Anbieter auch auf Prävention: So klärt Facebook seit kurzem seine (neuen) Nutzer in einen Datenschutz-Crashkurs standardmäßig ausführlich darüber auf, wie er wo etwas einstellen und sich verhalten sollte. Das scheint notwendig, weil die entsprechenden Einstellungen längst länger und lästiger als die Packungsbeilagen bei Medikamenten sind. Nun gut, liesse sich einwenden, am Ende gilt hier der Selbstbeschädigungsgrundsatz: jeder kann sich – wie mit Drogen, Doping, Rauchen, Alkohol – auch in seiner öffentlichen Kommunikation verhalten wie er will, seinen eigenen Ruf schwächen oder ruinieren und dann von einer Versicherung wieder aufpäppeln lassen. Aber auch hier werden Versicherer mit der Zeit dazu übergehen, präventives Kommunikationsgebahren zu belohnen. Wer ,regelmäßig zur Account-Prophylaxe geht, seine Datenschutz-Einstellungen durchchecken lässt, seine Profile und Chroniken regelmäßig entschlackt, seine Posting-Muskulator stärkt – Daten-Parodontose-Behandlung und Social Media Rückenschule – der kann seine Beiträge senken.
Aber reicht das alles wirklich? Angesichts des täglich ansteigenden Aufkommens an öffentlichen Kommunikationskonflikten bei statistisch wahrscheinlicher Zunahme von haftungsrelevanten, weil persönlichkeitsverletzenden Fällen? Wird der Staat das auf Dauer mit ansehen? Womöglich läuft es langfristig auf eine gesetzliche Versicherungspflicht in Kommunikationskassen hinaus. Schließlich kostet es zunehmend die Produktivkraft einer Gesellschaft, wenn die Menschen sich in nervenden und am Ende kostspieligen Streits um Rufschädigung und Reputationsverlust abarbeiten, weil die freiwillige Versicherungsrate viel zu gering ist. Wie bei der gesetzlichen Kranken- und Kfz-Versicherungspflicht könnte die Versicherung bei einer Kommunikationskasse eine Frage von Verantwortung gegenüber sich selbst, den anderen und der Gesellschaft sein: um das immer gefahrenvollere öffentliche Kommunizieren in offenen Netzwerken entsprechend abzusichern und sich zur Haftung zu verpflichten. Bekannte Grundsätze liessen sich ja übernehmen:
„Wer aus der Haut fährt, hat Schuld“.