Das Basis-Angebot erschwinglich – alles Weitere dann „zukaufen“ oder„ freischalten“. Was uns dieses „In-App“-Prinzip bei Medien, Spielen oder Service-Programmen vormacht, scheint in immer mehr Lebensbereiche einzudringen. Ob das so gut ist?
Sag mal, Pharmahersteller, könnt ihr nicht rechnen oder wollt ihr mich für blöd verkaufen – oder etwa beides?
Da ist dieses medizinische Mundwasser, quasi verordnet von meiner Zahnärztin, zum Aufpäppeln meines Zahnfleisches. Mit jeweils zehn Milliliter soll ich die Mundhöhle morgens und abends spülen, und das „mindestens drei Wochen“, also 21 Tage – steht so in der Packungsbeilage. OK, dafür benötige ich 21 mal 20, sprich 420 Milliliter. Die Flasche enthält aber nur 200 Milliliter.
Hä?
Für eine „vollständige Medikation“ müsste ich demnach eine oder zwei weitere 200 Milliliter-Flaschen erwerben. Mal ehrlich, was soll das? Wenn eine wirksame Behandlung drei Wochen und damit 420 Milliliter erfordert, weshalb bekomme ich dann nicht eine Flasche mit 420 Milliliter?
Das ist ja, als würde ich eine Busreise kaufen, sagen wir nach Lourdes, doch in der kleingedruckten „Buchungsbeilage“ steht dann, dass dieses Ticket für rund 750 Kilometer reicht, also etwa bis Strasbourg – bis Lourdes sind es aber 1950 Kilometer. (Nein, Reiseveranstalter, das war jetzt kein Vorschlag für euer Marketing!)
OK, ich verstehe schon. Würde diese ziemlich teure Mundspülflüssigkeit tatsächlich in 420 Milliliter-Flaschen verkauft, würde sich der Stückpreis ja mehr als verdoppeln – und wäre so abschreckend hoch, dass viele auf den Kauf und damit auf die erhoffte Heilung verzichten. Schön, aber wie wär’s stattdessen mit einem ehrlichen – und deutlich lesbaren! – Hinweis auf der Packung: „Inhalt reicht für halbe Behandlungsdauer“. Doch den traut sich natürlich erst recht keiner. Lieber wird kleinstgedruckt und herumgedruckst. Tja, aber ob dieses Druckser-Prinzip gut für’s Image ist? Das Image eines Herstellers, das einer ganzen Branche … überlegt doch mal!
Winkt hier womöglich der Vorbote einer schleichenden „In-App-isierung“ der Pharma-Branche, gar unseres Alltags?
Diese „In-App“-Verkäufe sind ja „das große Ding“, etwa in der Medienwelt. Dort bekomme ich eine elektronische Zeitschrift kostenlos auf den Schirm und kann auch einige Artikel oder Kurzfassungen umsonst lesen. Doch den vollständigen Text oder die ganze Ausgabe muss ich „zukaufen“. Das geht innerhalb der Zeitung, die in der digitalen Welt auch „Anwendung“ heisst, auf englisch „Application“, kurz „App“. Daher die Bezeichnung „In-App“-Kauf. Solche In-App-Käufe kennt man auch von Spielen oder Service-Programmen. Das betrifft, etwa bei Bauernhof-Simulationen, dazu-käufliche Dinge wie Saatgut, Futter oder schweres Gerät – man nennt es auch das „Zauberstab-Prinzip“. Bei Navigations- und Reise-„Apps“ kann beziehungsweise muss man die jeweiligen digitalen Landkarten dazu kaufen oder auch „freischalten“. Ein Vorteil: Innerhalb einer „App“ geht das prinzipiell schnell und bequem, weil Käuferdaten und Bezahlverfahren bereits gespeichert sind, und dann eine Bestätigung des Kaufs per „OK-Klick“ genügt.
Die damit verbundene Salami-Taktik ist zwar nicht wirklich neu, doch durch den (fast) überall möglichen Online-Zugang und internetfähige Mobiltelefone quasi perfektioniert: Man bietet den Einstieg, die Basisfunktionen erschwinglich an, ja, oft sogar kostenlos. Mitunter sind an den Nulltarifmodus auch Werbe-Einblendungen gekoppelt. (Womit sich komischerweise eine Redewendung umkehrt: Wer die kostenlose Version nutzt, muss Werbung zwar sprichwörtlich „in Kauf nehmen“ – doch tatsächlich kann er diese Aufdringlichkeiten nur per Kauf wieder loswerden, er muss die Werbung also wortwörtlich „in Kauf geben“ … naja, is ja auch egal … ) Jedenfalls, wer mehr will als die Grundfunktionen, mehr als das Basisangebot, mehr als die Minimalversorgung, der kauft eben dazu. In kleinen Mengen, zu geringen Preisen. Am besten kostet so ein Zukauf weniger als 1 Euro, bloß nicht über 10, so die Erfahrungswerte im In-App-Geschäftsmodell. Aber, ist das ein Modell für die Zukunft? Für alle Lebenslagen?
Nehmen wir mal die gebeutelte Musikbranche, dort könnte die „In-App“-Taktik neue Chancen eröffnen. Nein, nicht bei den Downloads sondern im weitaus lukrativeren Konzertgeschäft: Das Ticket für’s Hallenkonzert liesse sich in der Basisversion für nur 8 Euro anbieten – dafür gibt es 6 Songs auf dem Rang. Der Rang wird in der Pause geräumt, und wer mehr erleben will, kann sich die ganze Show dazu kaufen, für 40 Euro, Bezahlung per Handy, Klick-Klack, OK, QR-Code am Einlass vorzeigen, gebongt, viel Spaß! (Ansonsten: Bitte verlassen Sie jetzt den Saal).
Oder bei Ausstellungen, in Museen: Die ersten zwei Räume, die mit dem allgemeinen Überblick zum Thema und mit ein, zwei Highlights, die sind kostenlos oder für 1 Euro zu begehen. Jede weitere Abteilung, jeder weitere Saal kostet jeweils 79 Cent. Nun, warum nicht? Schliesslich interessieren einen oft nur bestimmte Teile einer Ausstellung – die anderen Säle würde man sich im Wortsinne gerne sparen. Auch Messen könnten sich des In-App-Prinzips bedienen und jede Messe-Halle extra abrechnen, je nach Erlebniswert zwischen 0,59 und 2,99 pro Halle. So entstünde auch eine weitere, vermutlich spannende Ebene des Wettbewerbs zwischen den Ausstellern. Und die daraus resultierenden Publikumsströme sind für die Veranstalter und Anbieter gewiss eine sehr hilfreiche Erkenntnis.
Seltsame Idee? Überhaupt nicht. Der gute alte Jahrmarkt oder auch Rummel praktiziert das schon länger: Das geringe Eintrittsgeld gilt für den Zutritt auf’s Festgelände, das ist die Basisfunktion. Doch jeder weitere Fahr- und Spiel-Spaß ist extra zu bezahlen, das ist der In-App-Kauf. Gewiss, bei den großen Freizeitparks herrscht momentan noch der extrem hohe „Einmal-für-alles“-Preis vor, die Park-Flatrate – aber wer weiss, wie lange noch? Es muss den Park-Betreibern doch mächtig in den Fingern jucken, vor allem die beliebtesten Freifall-Attraktionen oder die neuesten Turbo-Achterbahnen pro Fahrt einzeln abzurechnen. Mit einer entsprechenden App und etwas Kontroll-Logistik an den Eingängen könnte die In-App-isierung hier bald flächendeckend Einzug halten.
Aber, wir waren ja beim Gesundheitswesen. Und ich fürchte, dass nicht nur die Pharma-Hersteller den Reiz des In-App-Prinzips erkennen. Auch die niedergelassenen Ärzte scheinen mir dafür, wie heisst es, eine „Disposition“ zu haben. Ich denke da an die bekannte (08-15-)Behandlung als eine Art Grundfunktion: „Sie haben Symptom X, das spricht für Krankheit Y, dagegen hilft Medikamt Z. Das Rezept liegt vorne für Sie bereit, auf Wiedersehen.“ Und welcher (Kassen-)Patient verspürt nach so einer „Behandlung“ nicht dieses Gefühl, dass man eigentlich eine ausführlichere Erläuterung, mehr fachliche Beratung und wenigstens ein bisschen ärztliche Zuwendung erwartet hatte? Tja, aber derlei „Aufwände“ sind für 10 Euro Praxis-Flatrate offenbar nicht zu leisten, trotz begleitender Werbefinanzierung der Praxis durch kostenlose Ratgeberheftchen und Medikamente-Pröbchen.
„Sie können gerne die „Tiefen-Diagnose“-Option nachkaufen oder das „Zuhören-und-intensiv-auf-den-Patienten-eingehen“-Feature. Beides zusammen gibt es im Bundle übrigens preiswerter. Können Sie direkt in meiner Praxis-App dazu kaufen, sehen Sie mal hier …. Oh, Sie haben sich für die Option „Medikations-Erläuterung“ entschieden? Auch gut. Wir warten kurz auf den Zahlungseingang … Ich denke mal, in Ihrem Fall brauche ich so rund 11 Minuten, um Ihnen zu erläutern, wie das Medikament ansetzt und … ahhhh, ja, das System hat alles erfasst: ihr Betrag von, äh, 25,99 Euro reicht genau für, Moment, fünf Minuten. Nun, tja, … dann fange ich wohl am besten von hinten an, mit den bekanntesten Nebenwirkungen: Der Wirkstoff in diesem Präparat verursacht in seltenen Fällen … “