So, jetzt muss es schnell gehen. Eben rief mich ein langjähriger Freund an. Er habe zu viele Punkte in der Flensburger Datenverkehrssünderdatei gehabt, sagte er, daher sei er gesperrt worden: neun Monate kein Internet. Er brauche Hilfe.
Ich habe ihn gar nicht erst nach den Gründen gefragt. Manchmal ist er etwas aufbrausend und vergreift sich dann in der Wortwahl, aber ansonsten ein anständiger Kerl. Naja, zumindest verstehe ich jetzt, warum ich so ungewöhnlich lange nichts von ihm gelesen habe, weder per Mail noch auf seinen Plattformen. OK, er tauchte öfter mal für ein paar selbstverordnete Webstinenz-Wochen ab. Aber ‘n halbes Jahr ohne Surfualverkehr, das war offenbar zu lange, deswegen sein Notruf – dachte ich jedenfalls.
Und das alles wegen dieses neuen Datenstraßenverkehrgesetzes (DaStvG), das die Koalition noch kurz vor ihrem Zerfall durch‘s Parlament boxte.
Mitten in die Diskussionen, Proteste und Auseinandersetzungen zu ACTA, Urheberrecht, Netzgemeinden, Leistungsschutz und Vorratsdatenspeicherung platzte diese überraschende Gesetzesinitiative, um dem Telemediengesetz (TMG), dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) und dem Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) quasi ein „Metagesetz“ überzustülpen – um nur die drei wichtigsten „betroffenen“ Gesetze zu nennen.
Die Idee, Internet und digitale Kommunikation als dem Straßenverkehr ähnlich zu betrachten, geht an sich zurück auf Alt-Bundeskanzler Kohl, zu dessen Zeit die Netze als „Datenautobahnen“ galten und er dafür einst die Verkehrsministerien von Bund und Ländern für zuständig hielt. Zu einem auswegweisenden Konzept baute dies dann eine fraktionsübergreifende Gruppe von bis dahin unauffälligen Abgeordneten aus, allesamt Verkehrsexperten, einer war wohl vormaliger ADAC-Lobbyist. Diese 9 Jungs hatte nun wirklich kein Watchblog auf der ToDo-Liste.
Überhaupt wähnten sich die Netzgemeinden seinerzeit in Siegesgewissheit. Die „Kauderstrikes“ waren vom Tisch: diese plump platzierte Nachahmung des 2009 in Frankreich in Kraft getretenen HADOPI-Gesetzes fand hierzulande keine Mehrheit. Eine dreistufige Abmahnfolge von E-Mail, Brief und Vorladung vor den Richter, der eine Internetsperre verhängen kann, die galt vielen als zu radikal, sie klang nach digitaler Guillotine, mon dieu. Auch im nachfolgenden Kulturkampf („Heveling-Wochen“) konnten die Meinungspastoren aller Netzkonfessionen ihre Deutungshoheitsgebiete – von Internetfreiheit bis Datenselbstbestimmung – erfolgreich verteidigen. Naja, vielleicht mal abgesehen vom Aufruf der sogenannten Deutschen Content Allianz an die Bundesregierung, den umstrittenen ACTA-Vertrag zu ratifizieren. Da verlor so mancher TwittBlogPostler den Überblick, ob er nun primär Urheber, Verwerter oder Nutzer ist – und welche Rolle er dabei einnehmen oder stärken oder neu definieren soll; das waren zähe Selbstfindungsdiskurse.
Doch dann dieser clevere Vorstoß mit dem „german way of copyright-protection“, heute als Lenkrad-Gleichnis bekannt.
Die Grundidee: Wer sich hinter Maus, Trackpad oder Multitouch-Screen klemmt, der istnicht Rezipient sondern Datenverkehrsteilnehmer, der muss sich umsichtig verhalten und Regeln beachten, und er trägt Verantwortung, ganz wie der Lenker eines Kraftfahrzeugs. Wen wundert‘s, dass dieses simple Paradigma von der Autofahrernation Deutschland sofort verstanden und adaptiert wurde, quer durch alle Parteien, Schichten und Natives. Die Umsetzung war für besagte 9er-Gruppe dann wie eine Fahrt bei grüner Welle.
Zum Beispiel das Sanktionsverfahren. Analog zur Flensburger Kartei desKraftfahrtbundesamtes (KBA) wird jeder registrierte Verstoß gegen die Datenstraßen-Verkehrsordung (DaStVO) mit Einträgen geahndet. Dafür gibt es beim neuenDatenverkehrbundesamt (DVBA) einen detaillierten Punktekatalog. Mit gerade einmal 95 „Ordnungswidrigkeiten“ sei dieser – gegenüber den mehr als 250 beim Straßenverkehr – geradezu übersichtlich; sagten jedenfalls die Urheber des DaStVO und konnten damit in der breiten Bevölkerung punkten. Natürlich auch, weil sie vorschlugen, für das ganze Prozedere einfach die Software, die Regeln, die Vorschriften, ja, die ganze KBA-Behörde in Flensburg zu nutzen, das wäre dann relativ günstig und schnell umzusetzen. (War es dann nicht ganz, weil der Auftrag an jene Softwarefirma, die seinerzeit auch den Bundestrojaner … ach, ist eh wurscht, jetzt.)
Einen Eintrag in das neue Datenverkehrszentralregister gibt es seitdem bei Urheberrechtsverletzungen und allem, was mit verbotenen, indizierten Inhalten zu tun hat. Zudem gibt es punktebringende „iKnöllchen“ bei aktiver Beteiligung an Shitstorms und Beleidigungen anderer Netzteilnehmer, für das Zitieren ohne Quellenangabe, für aus dem Kontext gerissenes Zitieren, für das Nennen irreführender Links gegenüber denDatenordnungsämtern und und und und. Viele dieser im DaStVG definierten Regeln waren vielen Bürgern allerdings ziemlich neu. Also jenen, die ihr Leben lang praktisch Netzfußgänger waren.
Doch auch für die Integration der digitalen Migranten fanden die DaStVG-Erfinder eine beneidenswert clevere Lösung: Ein Förderprogramm für die Einrichtung von Datenfahrschulen. Den Boden dafür fanden sie im „Europäischen Computer-Führerschein“ (European Computer Driving Licence, kurz ECDL), der sich in den 90ern etablierte. In 30 europäischen Ländern konnte man ein offizielles ECDL-Zertifikat durch das Ablegen von Prüfungen in insgesamt 8 Modulen erwerben. Allerdings umfasste nur ein Modul die Themen „Internet, WWW und Email“ – und genau hier setzte die neuartige European Web Using Licence (EWUL) an: In ihren 7 Modulen geht es um Urheberrecht, Datensicherheit, Virenabwehr, Spamprävention, Social Media, Digitalpersönlichkeitsschutz und Netzbenimmregeln. Gute Sache, eigentlich, das mussten selbst die Piraten zugeben – auch deshalb hat‘s dann wohl mit diesemDatenführerschein funktioniert, den im übrigen jeder machen musste, egal wie Internet-erfahren er war.
Für die Aufrüstung der Kfz-Fahrschulen zu EWUL-Fahrschulen lenkte die Bundesregierung dann ehemalige Solarwirtschafts-Fördermillionen um, zur Weiterbildung des Personals und zur Installation der Schulungscomputer. Den Lernbetrieb und die Prüfungsabwicklung hatten die Fahrschulen ja ohnehin parat. Ich erinnere mich noch gut an meine praktische EWUL-Prüfung. Da saß mir so ein knorriger Prüfer alter Schule im Nacken, der hatte beim Datenverkehrbundesamt auf PC umgesattelt, allerdings noch voll den Fahrlehrer-Jargon drauf: „Wir möchten dann auf der nächsten Seite die obersten Links nehmen!“ Ständig notierte er was in sein Tablet und liess mich fasst durchrasseln, bloß weil auf dieser Online-Shop-Seite mein Radfahrer-, äh, AGB-Blick „ziemlich kurz“ ausgefallen sei. Blöder I… – (ähem, muss mich mäßigen).
Ich habe trotzdem bestanden und gleich meine insgesamt vier SIM-Cards freischalten lassen. Dafür steht in den Datenfahrschulen so ein autorisiertes Blitzkodierdings. Und nur mit autorisierten Bundessurfcards – gültig für jeweils fünf Upgrade-Zyklen – kommt man ins Web, ob nun per Smartfon, Tablet oder Heimcomputer. (Seit Inkrafttreten des DaStV sind alle Internet-Service-Provider gezwungen, bei jeglichem Webzugriff die Gültigkeit der EWUL-kompatiblen Chips zu prüfen – und den Zugang gegebenenfalls abzulehnen.) Neben den Fahrschulen können auch Meldestellen und Bürgerämter blitzkodierdingsen. Diese EWUL-Chips sind mit dem Flensburger Datenverkehrspunkteregister verknüpft. (Die kategorische Ablehnung dieser Verkopplung kostete den damaligen Bundesdatenschutzbeaufragten den Job). Und bei zuviel Punkten werden die Chips eben gesperrt. Ende Webgelände.
Klar gibt es einen tiefschwarzen Markt für gehackte Zugänge, aber das ist wie ein gefälschter Pass oder Führerschein: sehr riskant. Und wer will schon dauernd bei Freunden oder Verwandten betteln, um mal zu surfen? Also bleibt einem nichts übrig, als den behördlich verordneten Internet-Entzug auszusitzen. So wie bei meinem Freund, die arme Sau. Dumm nur, dass es in seinem Anruf bei mir gar nicht um die kleine Dosis Netzkommunikation ging. Es war viel schlimmer:
„Die haben mich zu dieser iMPU vorgeladen, Du weisst schon: Die Internet- und Medien-psychologische Untersuchung.“
Ach, Du Scheiße, dachte ich, der Online-Idiotentest.
„Alles klar, Alter, komm sofort vorbei!“