Sie halten das Gebäude besetzt, sie protestieren, sie demonstrieren: „Finger weg von den öffentlichen Surfotheken!“ ist auf dem grössten Transparent zu lesen, „Erhaltet die Medientafeln!“ und „Für das Recht auf freie Informationsteilhabe!“ steht auf weiteren Spruchbändern. Mit verhakten Unterarmen formieren sie einen geschlossenen Ring um die ZME, die Zentrale Medien Einrichtung, fest entschlossen, nicht zu weichen. Ihnen in etwa 500 Meter Entfernung gegenüber steht Polizei.
Die Phalanx der Einsatzkräfte wirkt mächtig, verharrt aber noch. „Wir müssen mit der Räumung beginnen, sobald das Gericht das Urteil verkündet?“ fragt ein sichtlich nervöser Gruppenleiter im zentralen Einsatzwagen seine unmittelbare Vorgesetzte. „Ja, genau! Lesen Sie doch selbst“, antwortet die Chefin auf dem Screen des A4-Tablet, macht sich samt Videofenster selbst klein und gibt so die Sicht frei auf zahlreiche Berichte. Erst überfliegt er diese nur, doch dann begreift er, worum es wirklich geht. Um mehr als ihm recht ist.
Die Zusammenlegung kleiner, regionaler Bibliotheken zu grossen, zentralisierten Medien-Einrichtungen traf ihn als Stadtrandwohner seinerzeit auch persönlich, er war häufig in der kleinen vor-Ort-Bücherei. Doch angesichts der leeren öffentlichen Kassen erschien es ihm plausibel, die knappen Mittel und Medien auf eine einzige, voll digitalisierte und deshalb im Volksmund „Surfothek“ genannte Zentaleinrichtung in der City zu konzentrieren. Das reduzierte die städtischen Personalkosten. Er ist ja selbst Angestellter des Staates und will es auch bleiben. Die Proteste gegen den Abbau des regionalen „Surfotheken“-Netzes trug er daher nicht mit. Gleichwohl nötigte ihn das herbe Kürzen seiner Bezüge damals zur Kündigung sämtlicher Abonnements von Zeitungen und Kabelsendern sowie zum Herunterstufen beim öffentlich-rechtlichen Nachrichtenversorger auf das preiswerteste Minimal-Paket „Ex-Press-O“. (Das mit den angeblich „deftigen“, an sich aber dürftigen 100-Sekunden- und 50-Zeilen-Formaten). Kein Wunder, dass er jetzt nicht gut im Thema ist, von vernünftigem Hintergrundwissen mal ganz abgesehen.
Eigentlich nutzt er seit einiger Zeit die „Medientafeln“, die sind eine gute Sache. Sie sammeln ja längst nicht mehr nur gedruckte Magazine und Zeitschriften ein, wie bei ihrer Gründung damals. Die Idee fand schnell Anklang: analog zu den bekannten Essenstafeln auch „geistige Nahrung“ dort abzuholen wo sie übrig bleibt, und diese dann jenen zugänglich zu machen, die sich den umfänglichen Anschluss an die Informations-Netzwerke nicht mehr leisten können. Pfiffigerweise nutzten die Medientafel-Gründer, ein Berliner Startup, die Infrastruktur der „Lesezirkel“ – einer Branche, die ohnehin vor der Pleite stand, weil der komplette Wartezimmer-Markt an werbegesponsorte WLAN-Zugänge verloren ging. So retteten die Medientafel-Gründer viele Lesezirkel-Arbeitsplätze, konnten auf Zuschüsse vom Land verzichten und erhielten prompt den begehrten „Wowi-Bär“ in Gold: die höchste Auszeichnung der Stadt für gemeinschaftsdienliche Initiativen zur Grundversorgung, die den Staat nichts kosten. Das erhöhte die Popularität der Medientafeln enorm.
Dank eines stetig wachsenden Spendenaufkommens konnten sie massenhaft gebrauchter PCs, Tablets und ebookreader anschaffen und sogenannte Surf-Missionen einrichten, meist in den ohnehin leer stehenden ehemaligen Regional-Bibliotheken oder alten Ämtern. Die ehrenamtlich betreuten Surf-Missionen waren schnell gut besucht, wurden zu beliebten Treff-Punkten von immer mehr zu Hause Entnetzten – und den mächtigen Medienunternehmen mehr und mehr ein Dorn im Auge.
Unter Berufung auf angebliche Verstösse gegen das 2012 durchgeboxte Leistungsschutzrecht setzten die fünf Medien-Majors zunächst strenge Regeln in den Surf-Missionen durch: Taschenkontrolle und Abgabe aller Arten von Aufnahmegeräten, Sticks und Chips, Begrenzung der Lesedauer auf eine Stunde pro Tag und Person, kein gemeinschaftliches Lesen, kein lautes Vorlesen der Texte. Aufgrund der dennoch steigenden Nachfrage öffneten die Medientafeln dann auch Nachts. Das nahmen die Majors zum Anlass, sich auf die bekanntermaßen schwammige Berliner Regelung bei den Medieneinrichtungs-Öffnungszeiten zu beziehen – und erwirkten dann mehrere einstweilige Verfügungen zur Schliessung der populärsten Surf-Missionen. Das ist zwei Wochen her und betraf auch jene Medientafel, die der Polizei-Gruppenleiter regelmäßig nutzt. Dass deren Team vor ein paar Tagen an einem Sternmarsch zur amtierenden Kommunikations- und Mediensenatorin teilnehmen wollte, hörte er noch von Nachbarn.
Doch dass die „Medientafelritter“, wie sich selbst nannten, im Anschluss an ihre Kundgebung zusammen mit hunderten Tafelnutzern direkt weiter gezogen sind zur ZME – deren Mitarbeiter sich mittlerweile mit den Medientafeln solidarisierten – und dort spontan eine „Occupy“-Aktion starteten, das liest er erst jetzt in diesen Berichten. Und nach 24 Stunden „Besetzung“ soll nun die gewaltsame Räumung der Zentralen Medien-Enrichtung erfolgen. „Verdammt“, denkt er. Nicht nur, dass er ein paar Leute aus seiner Surf-Mission kennt und schätzt. Vielmehr absolviert seine Tochter seit zwei Wochen ein Studienpraktikum – in der ZME.
Und nun?