Digitaler Musik fehlt das Echte, das Wahre, ihr fehlen die Spuren der Benutzung. Das treibt manche zurück zum Vinyl. Doch auch Schallplatten müssen gebraucht werden, um schön benutzt zu klingen. Oder vielleicht doch nicht?
Schallplatten sollen ja wieder im Kommen sein. Also „richtige“ Platten, meine ich: Pizza-groß, tiefschwarz, kreisrund und am besten massiv schwer. Unter „schwer“ fällt in der Discologie ja alles jenseits von 80 Gramm oder sogar 100 Gramm Vinyl. So ein feistes Teil labbert auf dem Plattenteller nicht rum und verzieht sich auch nicht bei jedem bisschen Transportkisten- oder Stapel-Stress zu einer Art Suppenschale.
Nein, ’n richtig gutes Vinyl-Gefühl bietet nur so ein bleischwerer 100g-Diskus – frisch gerillt von enthusiastischen Nerds, die sich in ihrem Mini-Presswerk gerne von ausgesuchten Musikalien-Händler hinterhofieren lassen. Als streng limitiertes Einzelstück macht so eine wahre „Schall-Platte“ all das her, was ein „Digital Download“ nie haben kann: Liegt gut in der Hand, hat das magisch „Reale“, ist analog und „haptisch“, ja, riecht sogar irgendwie nach, nach, … , nach irgendwas eben. Und Vinyl glänzt so schön. Jedenfalls wenn die Platte neu ist, unbenutzt. Doch was ist eine unbenutzte Platte? Laaaaangweilig!
Zum Benutzen, mithin zum „Auflegen“ sind Schallplatten ja wohl ursächlich gemacht, heute mehr denn je. Und an sich kaufen Vinyl-Platten ja eh nur stehengebliebene Sammler und DJ’s. Also zumindest jene (stehen gebliebenen?) DJ’s, die das gute, alte Turntabling praktizieren, ob nun aus Traditionsliebe, Trägheit oder Trotz. Oder weil sie angeben wollen. Wobei: Im Grunde ist DJerismus ohnehin pure Angeberei. Der Aufleger als solcher prahlt gerne: mit seinem Musikgeschmack, seinen Raritäten, seinen eigenen Mixes, seiner Routine – und mit seinen Kratzern! Rein und digital – wer will das denn?
Ich meine, mal ehrlich: Optisch kommen DJs, die auf ihrer Kommandobrücke stehen und irgendwie fummelig MP3-Tracks abfahren, viel zu öde rüber. Ihre Kollegen, die Vinylisten, die grobmotorisch mit fetten, schwarzen Scheiben rumhantieren, haben irgendwie von Hause aus ein besseres Performance-Potenzial. Schlimmer aber noch ist der akustische Unterschied: so ein digitaler MP3-Track klingt eben auch immer bei jedem Abspielen und jedem DJ gleich, denn dem Digitalen fehlt schlichtweg das Abnutzen, ihm fehlt die akustische Patina!
„Gimme some static!“ forderte James Brown zu Beginn eines seiner Songs in den Achtzigern, als die CD den Knistersound der elektrostatisch aufladbaren Vinylscheibe verdrängte. Und seitdem gibt es digital nachgeahmtes Knistern, um real existierende Kratzereien vorzutäuschen. Aber, ähem, das ist in etwa so armselig wie Publikumslacher vom Band, das will man doch nicht wirklich hören. Gimme some „real stattic!“ Das sehe ich im übrigen auch als Tänzer so.
Nur Audiophile und Pedanten rümpfen die Nase, wenn es aus den Boxen aufladestatisch knistert, kratzerbedingt knackt oder ein krasser Tonarmhüpfer zu tänzerischen Artefakten zwingt, weil man sich mit dem Groove neu synchronisieren muss. Hey, das ist Leben! Kratzer und Narben sind Leben, weil sie Zeugnis von Erlebtem, von Erlebnissen sind. Echte Kratzer haben ’ne Geschichte! DJ’S die ihre Platten schutzlos den Gefahren von Rauch und Nebel, Flüssigkeiten und Staub, fettigen Fingern und spitzen Gegenständen aussetzen, sie ohne Hüllen ins Depot stopfen – also ohne Rücksicht auf Klang-Verluste ordentlich schrubben, die haben was zu erzählen – und das erzählen ihre Kratzer! Klar, es gibt auch zu viel des Echten. Wenn ein fünf-Minuten-Song durch herbe Schürfwunden auf ein 30-Sekunden-Stakkato runtergecrasht wird, hört der Spaß am Fehler auf. Aber so ein hübscher „Bass-Jump“, der bei dieser Scheibe dieses DJ’s verlässlich bei 3:30 kommt, der hat genau dieses Eigene, Einmalige, dieses Echte. Das ist menschlich, das ist sympatisch, das ist cool.
OK man, könnte Vinyl ja hegen und pflegen. Aber reinräumig funkelnde Vorzeige-Scheiben, penible Nassreinigung und antistatische Innenhüllen, das ist doch was für Spießer. Bääh. Ich sage nur: Ge-brauchs-ge-gen-stand! Echte und echt benutzte Vinylscheiben sind eben matt und zerkratzt, die Knistern und Knacken, mitunter so krass, dass es einem auch mal in die Glieder fährt. Ist OK, weil es authentisch ist (Ich weiss, überstrapaziert, passt hier aber).
So weit, so klar. Bleibt nur ein Problem: was machen jetzt die notorischen Vortäuscher und Möchtegerns? Da hätte ich einen Vorschlag: Sie greifen zur „limited Patina Edition“. Das Prinzip ist vom „Stone Washed-Verfahren“ bei Jeans bekannt, nur abgewandelt: Fabrikneue Scheiben legt der Hersteller beispielsweise für ein paar Tage auf einem Parkplatz eines Gewerbehofes aus. Oder neben den Katzenbaum des Büro-Tigers. Oder in den Krabbelraum der benachbarten Kita. Nach ein paar Tagen „randomized use“ sollte die „individuelle Maserung“ jeder einzelnen Platte deutlich zu sehen sein – und zu hören.
So können Pseudo-DJs oder auch Neu-Einsteiger ihre „Marke“ als Aufleger sozusagen statisch aufladen; sie können amtlich angeben mit dutzenden wilden Parties, die sie und ihre Scheibe schon durchgemacht haben. Respekt, Alter. Und wer zu fantasielos ist, sich zum artifiziellen Kratzer eine passende, schön Hangover-mässige Anekdote aus den Rillen zu schneiden, dem liefert der textsichere Vinyl-Händler eine solche eben gleich mit – natyrlich gegen Aufpreis.
Everybody, say yeah-knack-ay-yeah-knack-ay-yeah-knack-ay-yeah!